Vertrauliches aus dem Kabinett: Eine Bun­des­re­gie­rung, wie von Loriot gezeichnet?

von Martin Rath

30.07.2023

Der Kanzler schimpfte über die "Idioten in den eigenen Reihen": 1986 erschien ein Buch, das nicht nur humoristisch darüber aufklärte, wer damit gemeint war. Sein Verfasser wurde disziplinarisch gemaßregelt, weil es auf Interna beruhte. 

Ob die Regierung der Bundesrepublik Deutschland wohl jemals so professionell geführt wurde wie – sagen wir – der Vorstand eines DAX-Unternehmens? Oder muss man sich in Bonn und Berlin Verhältnisse vorstellen, die irgendwo zwischen den Umgangsformen in einem zerstrittenen Hamburger Lehrerzimmer und den Kraftmeiereien eines bayerischen Wirtshauses liegen? 

Man weiß es nicht sicher.  

Denn Eliten könnten sich, wie eine etwas zynische Weisheit behauptet, zwar nicht unbedingt durch höhere Kompetenz in der Daseinsvorsorge oder in der Schönheit ihres Stils, aber doch dadurch auszeichnen, dass niemand eine soziologische Studie über sie zu schreiben wagt. 

Von einem Augen- und Ohrenzeugen aus den Regierungsjahren von Willy Brandt und Helmut Schmidt, also der Zeit der Koalition von SPD und FDP zwischen 1969 und 1982, sind immerhin einige Details aus dem höheren Regierungsbetrieb zu erfahren. 

Zu lesen ist hier beispielsweise, dass sich ein guter Teil der Minister gern aus dem Sitzungssaal schlich, wenn sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ein Spiel lieferte – natürlich mit allem Hinein und Hinaus, Geraschel und Getuschel, um weder im Sport noch im Kabinett etwas Wesentliches zu verpassen.  

Verantwortlich für dieses mangelnde Sitzfleisch der Minister soll, so der Zeitzeugenbericht weiter, Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015, im Amt 1974–1982) gewesen sein.  

Schmidts herrisches Auftreten, seine Gabe, Dinge stets besser zu wissen und gegenüber seinen Kabinettskollegen eine Art schwarze Pädagogik anzuwenden, zeichneten seinen Führungsstil aus, Zitat: 

"Ein Kanzler, der sich in den Details besser auskannte als mancher Fachminister, zudem ausgestattet mit einem selbst für Politiker unüblichen Intelligenzquotienten […] und einem durch nichts zu erschütternden Selbstbewußtsein, dazu auch noch ziemlich humorlos – ein solcher Chef im Ring mußte zwangsläufig auch Weglaufeffekte erzeugen […]. Gefürchtet war Schmidts schneidendes 'Nicht verstanden', mit dem er Ministern in die Parade fuhr, wenn sie sich nicht klar genug ausgedrückt hatten – was vorkam. Manchmal schien es allerdings, als ob der Kanzler sein Nichtverstandenhaben nur vortäuschte, um den Redner zu verunsichern und aus dem Konzept zu bringen." 

Bundesinnenminister Werner Maihofer (1918–2009), von Haus aus Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie und einer der Köpfe hinter den sozialliberalen "Freiburger Thesen", wurde – glaubt man dem Bericht – bei fehlender Kenntnis von Vorlagen durch Bundeskanzler Schmidt regelmäßig aufs Peinlichste vorgeführt. 

Maihofers FDP-Parteifreund Josef Ertl (1925–2000), ein etwas urtümlicher und dünnhäutiger bayerischer Landwirt und dazu passender Fachminister, wurde durch die "Frotzeleien" Schmidts immer wieder dazu getrieben, beleidigt, aber unverbindlich seinen "Rücktritt" zu erklären und aus dem Raum zu stürmen. 

Menschliche Komödie, Kindergarten oder Bundeskabinett? 

Auf rund 140 Druckseiten seines 1986 veröffentlichten Buchs "Ertl kam ständig zu spät und andere Kabinettstücke" erzählte Christoph Rang (1933–) von vielen Vorgängen, die nicht immer den Eindruck vermitteln, dass die Bundesrepublik seinerzeit von erwachsenen Menschen regiert wurde. 

Die Antworten auf parlamentarische Anfragen und die wachsende Papiermasse der Berichte aus der Verwaltung genossen etwa – folgt man Rang – bei Schmidt bestenfalls den Ruf, den Prestigebedürfnissen der Minister zu dienen. Unglücklich, wenn während der Kabinettssitzungen nicht der Geschmack des Kanzlers bedient wurde, Zitat: 

"Einmal, im April 1975, verlor Helmut Schmidt die Contenance. Das Opfer war ausgerechnet eine der angenehmsten Erscheinungen des damaligen Kabinetts, Katharina Focke, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit. Katharina war an der Reihe mit einem Bericht über die 'Lage der Familie in der Bundesrepublik Deutschland'. Das Werk umfaßte nicht nur zu viele Seiten (einige hundert), sondern zeichnete sich vor allem durch das beim Kanzler bekanntermaßen verhaßte 'Soziologenchinesisch' aus. Schmidt rankte sich in seiner Empörung an dem Ausdruck 'Sozialisation' empor, der nahezu jede Seite schmückte." 

Christoph Rang gewann seine Einblicke in die deutsche Regierungskunst während seines Diensts im Kabinetts- und Parlamentsreferat des Bundeskanzleramts zwischen 1973 und 1982. Sein Buch aus dem Jahr 1986 zog ein Disziplinarverfahren nach sich. 

Disziplinarverfahren wegen Verletzung des Verschwiegenheitsgebots 

Vorgeworfen wurde Rang, dass das Buch in 19 Fällen die Äußerungen von Mitgliedern des Bundeskabinetts aus den Kabinettssitzungen zitiert und in 67 Fällen aus diesen Sitzungen über das Verhalten und die Manieren der Regierungsangehörigen berichtet habe. 

Damit habe er gegen ein besonderes und gegen das allgemeine beamtenrechtliche Verschwiegenheitsgebot verstoßen. Hilfsweise hatte der Bundesdisziplinaranwalt beantragt, die humoristische Darbietung als Verstoß gegen die Pflicht zu behandeln, innerhalb und außerhalb des Dienstes "der Achtung und dem Vertrauen gerecht zu werden", die der Beruf des Beamten verlangt, § 54 Satz 3 Bundesbeamtengesetz (BBG 1953). 

Nach § 22 Abs. 3 Geschäftsordnung der Bundesregierung (GOBReg) vom 31. Mai 1951 sind ihre Sitzungen vertraulich, insbesondere dürfen ohne Genehmigung des Bundeskanzlers keine Details zu den Äußerungen der Bundesminister, zum Stimmenverhältnis oder aus dem Protokoll in die Öffentlichkeit getragen werden. 

Eine Genehmigung des Bundeskanzlers, seit 1982 war dies Helmut Kohl, lag dem Beamten nicht vor. 

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) – als Berufungsinstanz gegen das erstinstanzliche Urteil des Bundesdisziplinargerichts angerufen – stellte fest, dass § 22 Abs. 3 GOBReg für den Beamten mittelbar galt, weil er auf Weisung seines Dienstvorgesetzten an den Sitzungen teilnahm. Zugleich hatte er gegen seine Gehorsamspflicht, § 55 Satz 2 BBG 1953 verstoßen, wonach der Beamte verpflichtet ist, die von den Vorgesetzten erlassenen Anordnungen auszuführen und Richtlinien zu befolgen, soweit er nicht "nach besonderer gesetzlicher Vorschrift an Weisungen nicht gebunden und nur dem Gesetz unterworfen ist". 

Die Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gab einen solchen Erlaubnistatbestand nicht her. 

In seinem Urteil vom 11. Dezember 1991 (Az. 1 D 75.90) bestätigte das BVerwG das milde Urteil der Vorinstanz, das eine Gehaltskürzung um ein Zwanzigstel für die Dauer von zwölf Monaten angeordnet hatte. 

Ein wenig vermittelt sich der Eindruck, dass die Sache durch die Berufungsinstanz ging, um in der Frage der Verfahrenskosten eine Entlastung zu erreichen. 

Helmut Schmidt warnt vor dem Kohlenstoffdioxid und andere Kabinettstücke 

Sich in das Urteil vom 11. Dezember 1991 selbst einzulesen, lohnt sich auch, falls ein spezifisch juristisches Interesse fehlt. Denn das Gericht dokumentierte sämtliche Anschuldigungen gegen den Beamten mit ausführlichen Zitaten aus dem inkriminierten Buch. 

Was Christoph Rang 1986 zum Beispiel aus den Tiraden Helmut Schmidts gegen die Finanzen der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) wiedergab, ist sowohl wegen ihrer alternativlosen Kassenwirksamkeit als auch vom Tonfall der damals sozialdemokratischen Europa-Kritik beeindruckend. 

Bemerkenswert ist auch, was Bundeskanzler Schmidt, der am 1. Oktober 1982 nach einem konstruktiven Misstrauensvotum von Helmut Kohl (1930–2017, im Amt bis 1998) abgelöst wurde, damals zum Kohlenstoffdioxid, zur Notwendigkeit der Kernkraft und der Geothermie-Erschließung und dazu sagte, wie unmöglich es sei, weiterhin Kohle zu verfeuern.  

Interessant ist schließlich noch ein Detail, das heute dabei helfen könnte, sich über den Prozess des politischen Meinungskampfs in der Bundesrepublik neu zu verständigen. 

Für einen Teil der Äußerungen aus dem Bundeskabinett hatte der Beamte zu seiner Verteidigung angeführt, dass es sich um Tatsachenschilderungen handelte, die schon in allgemeinen Quellen publiziert worden seien. So hatte etwa die Bundesregierung selbst nachträglich und mehr als üblich ihre internen Abläufe im Fall der Entführung von Hanns-Martin Schleyer (1915–1977) durch RAF-Terroristen offenbart.  

Hinzu kam das notorische Nachrichtenmagazin aus Hamburg. Der sehr kluge Publizist Claus Koch (1929–2010) warf dem "Spiegel" schon 1989 vor, über politische Vorgänge nur auf einem Niveau zu berichten, auf dem die deutschen Angestellten einander den neuesten Büro-Tratsch mitteilten. Beamten-Mund tat also vielleicht nur "Spiegel"-Stil kund. 

Verteidigung führt in die Vergangenheit strittiger Regierungspropaganda 

Vor allem hatte der bekannte und tatsächlich – nicht nur, wie man heute dahinsagt – "umstrittene" langjährige Regierungssprecher Klaus Bölling (SPD, 1928–2014) sehr schnell nach dem hitzig debattierten konstruktiven Misstrauensvotum, 1982, ein Buch über die letzten 30 Tage von Helmut Schmidt im Bundeskanzleramt veröffentlicht. Dabei ging es nicht zuletzt darum, die FDP als Verräterin an der sozialliberalen Koalition zu brandmarken. Ohne Schlüssellochperspektiven war das nicht zu machen. 

In dieser Sache nun hatten die CDU-Bundestagsabgeordneten Claus Jäger (1931–2013) und Norbert Lammert (1948–) jeder für sich die Bundesregierung um Auskunft ersucht, ob gegen Bölling beamtenrechtlich wegen der Verletzung seiner Verschwiegenheitspflicht vorgegangen werde. Die nunmehr von der CDU/CSU und FDP getragene Regierung verneinte das in recht gewundener Form (Stenographischer Bericht, 125. Sitzung vom 26. Oktober 1982, S. 7621). 

Die eifrige parlamentarische Anfrage des sehr konservativen Abgeordneten Jäger und des heute für seinen Feinsinn gerühmten, aber erst seit 1980 dem Bundestag angehörenden Norbert Lammert mag auch darin begründet gewesen sein, dass Bölling lange vor seinem 1982er-Œuvre für eine ungebührliche Ausweitung der sogenannten Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung verantwortlich gemacht wurde – treuherzig sprach die Opposition damals manchmal noch von Propaganda. 

Das Bundesverfassungsgericht hatte auf Antrag der CDU mit Urteil vom 2. März 1977 (Az. 2 BvE 1/76) die ausufernde PR-Arbeit der SPD/FDP-Bundesregierung zumindest in Wahlkampfzeiten deutlich kritisiert. 

Diese Entscheidung enthielt nicht nur eine juristische Seite. Auch im politischen Raum, in den Verhandlungen des Bundestags, wurde seither der Name "Bölling" eine ganze Weile, oft in empörtem Ton erwähnt. Offenbar empfand man eine ausufernde Regierungspropaganda damals noch als echten Tabubruch – jedenfalls, bis die Unionsparteien selbst die Bundesregierung stellten. 

Das Vorbild Böllings zählte, wie zu erwarten war, in der Disziplinarsache wenig. 

Das richterliche Urteil über das Buch "Ertl kam ständig zu spät und andere Kabinettstücke" enthält mehr als eine juristische Wertung – es gibt auch den Wunsch zu erkennen, dass die Regierungsgeschäfte mit Ernst betrieben und in der Öffentlichkeit über Prozesse vermittelt werden, die das Grundgesetz und die Geschäftsordnungen vorgeben. 

Heute kann ein x-beliebiger Unterhaltungsfilm im Streaming ohne Weiteres fünf, sechs Mal von der sinnlosen Werbebotschaft eines Ministeriums unterbrochen werden, dass ein nicht näher definiertes, in Volk oder Ministerium inkarniertes "Wir" für das unbekannt bleibende Gute und gegen das Böse kämpfe. 

Früher regten sich die Leute noch über Regierungsreklame auf, die weit weniger penetrant war. 

Hinweis: Christoph Rangs "Ertl kam ständig zu spät und andere Kabinettstücke" erschien 1986 im Kölner Lamuv-Verlag. Bis 1991 verkaufte sich nur rund die Hälfte der 5.000 gedruckten Exemplare. Zu erwerben ist es heute antiquarisch. 

Zitiervorschlag

Vertrauliches aus dem Kabinett: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52367 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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