Die Nürnberger Prozesse nach dem zweiten Weltkrieg gelten als Modell für die Aufarbeitung staatlichen Unrechts. Doch wo steht das Völkerstrafrecht heute? Darüber diskutierten Fachleute auf Einladung des Bundesjustizministeriums.
Die Veranstaltung am Montagabend folgte mit vier Tagen Abstand auf den Jahrestag der Nürnberger Prozesse gegen die NS-Verbrecher. Und das war konsequent, denn die Diskussion sollte kein Rückblick sein. Thema waren vor allem die Folgen der damaligen epochalen Prozesse im Hier und Jetzt.
"Was ist aus dem Versprechen von Nürnberg geworden?", fragte Wulf Schmiese, Redaktionsleiter des ZDF-heute-Journals, der die Veranstaltung mit lebendigem Ernst moderierte. "Recht und Gerechtigkeit 75 Jahre nach den Nürnberger Prozessen" lautete der offizielle Titel der Veranstaltung.
Dabei ging es bemerkenswert wenig um den Internationalen Strafgerichtshof (IStG), der seit 2002 in Den Haag seine Rolle, seine Fälle und seine Akzeptanz sucht. Justizstaatssekretär Christian Lange, der die kurzfristig erkrankte Ministerin Christine Lambrecht (beide SPD) vertrat, äußerte immerhin die Hoffnung, dass der kommende US-Präsident Joe Biden die Sanktionen gegen IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda zurücknimmt. Die US-Regierung hatte sie im September verhängt, weil Bensouda wegen möglicher US-Kriegsverbrechen in Afghanistan ermittelt.
Staatssekretär Lange warnte allerdings auch vor Illusionen. Die feindliche Haltung der US-Regierung gegenüber dem IStGH sei keine Erfindung Donald Trumps, sondern habe schon das Handeln der vorigen Präsidenten, inklusive Barack Obama, bestimmt.
Von Nürnberg nach Koblenz
Die Nürnberger Verfahren waren "a prosecutor's dream", weil die Nazi-Kriegsverbrecher ihre Taten überwiegend bürokratisch korrekt dokumentierten, sagte Rechtsprofessorin Dr. Stefanie Bock, die an der Uni Marburg über Kriegsverbrecherprozesse forscht. Dagegen stellen Prozesse gegen aktuelle und ehemalige Mitglieder des noch herrschenden syrischen Regimes die Justiz vor deutlich erschwerte Beweisprobleme.
Generalbundesanwalt Peter Frank schilderte, wie seine Behörde bereits 2011, nachdem das Assad-Regime die Proteste der Bevölkerung immer gewaltsamer unterdrückte, mit Strukturermittlungen gegen unbekannt begann. Die Arbeit der Beweissicherung wurde dann durch die syrische Flüchtlingsbewegung nach Deutschland sehr erleichtert. "Nun kamen die Beweise zu uns", sagte Frank. Opfer und andere Zeugen konnten sehr genau beschreiben, was sie in Syrien erlebt oder beobachtet hatten.
Eine weitere wichtige Beweisquelle waren Fotos eines Militärfotografen, der sich "Caesar" nannte und im Zuge seiner Flucht nach Europa auch Unmengen Beweisfotos, die er einst im Auftrag des Regimes anfertigte, aus Syrien herausschmuggelte. "Diese 28.000 Fotos zeigen rund 6.000 gefolterte und getötete Menschen", fasste der Generalbundesanwalt zusammen. Mit Hilfe des rechtsmedizinischen Instituts der Uni Köln versuchte man die Fotos daraufhin zu analysieren, an welcher Einwirkung die Opfer wohl jeweils gestorben waren.
Anwar al-Bunni hatte in Syrien als Menschenrechtsanwalt gearbeitet, war jahrelang im Gefängnis und sammelt seit seiner Flucht nach Deutschland Beweise für die Verbrechen des syrischen Regimes. Er geht davon aus, dass auch rund tausend syrische Verbrecher im Zuge der Fluchtbewegung nach Europa kamen. Gegen zwei von ihnen läuft seit April der erste Prozess am Oberlandesgericht (OLG) Koblenz. Auf Grundlage des Weltrechtsprinzips wird hier über die Taten von Syrern an Syrern in Syrien geurteilt.
Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR (European Centre for Constitutional and Human Rights), bezeichnete die zwei Verfahren von Koblenz als "Armutszeugnis", das zeige, wie wenig letztlich doch passiere. Er kritisiere das nicht nur bezüglich Syrien, sondern generell, so Kaleck, denn es gebe ja auch noch "so viele andere Menschenrechtsverletzungen auf der Welt."
Mit dieser Kritik erntete Kaleck aber heftigen Widerspruch von al-Bunni: "Der Prozess von Koblenz wird von großer historischer Bedeutung sein und eine große Veränderung in der Welt bewirken", sagte der syrische Anwalt. Auch Markus N. Beeko, Generalsekretär von amnesty international Deutschland, lobte die "wegweisende Verantwortung", die Deutschland im Kampf gegen die Straflosigkeit übernommen habe.
Sexualisierte Gewalt ist im Krieg systematisch
Beate Rudolf, die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, wies daraufhin, dass sexualisierte Gewalt in den Anfangszeiten des Völkerstrafrechts noch kaum eine Rolle spielte. Sie leitete damit einen zweiten Schwerpunkt der Diskussion ein.
Kaleck betonte, dass in allen bewaffneten Konflikten sexualisierte Gewalt eingesetzt werde, "nicht nur gegen Frauen und Mädchen, sondern auch gegen Männer". Es gehe hier darum, die Moral und die Menschen zu brechen.
Claudia Höfer, deutsche Richterin am Nachfolgegericht (Residualmechanismus) der ad hoc-Strafgerichtshöfe für Jugoslawien und Ruanda, schilderte den Lernprozess am Jugoslawien-Tribunal. "Zu Beginn in den 1990er-Jahren wurde auch dort kein Fokus auf sexualisierte Gewalt gelegt". Man habe dann aber gemerkt, dass geschulte Expertinnen nötig sind, um mit betroffenen Frauen zu sprechen. "Anschließend kamen auch immer mehr Fälle sexualisierter Gewalt zur Anklage", so Höfer. Weitere Jahre später habe eine Berufungskammer die sexualisierte Gewalt sogar hochrangigen Politikern und Militärs als Verantwortlichen zugerechnet.
Auch Höfer betonte, dass "sexualisierte Gewalt" nichts ist, was im Laufe von Kriegen "mal passiere". Es handele sich hierbei vielmehr um ein bewusstes "Mittel der Kriegsführung".
Kaleck kritisierte, dass sexualisierte Gewalt auch am OLG Koblenz kaum eine Rolle spiele. Generalbundesanwalt Frank hielt dagegen, dass neben den Tötungen und Folterungen auch zwei Fälle sexualisierter Gewalt angeklagt wurden.
"Nie aufgeben"
Rechtsprofessorin Bock warnte davor, nur die Zahl der Anklagen oder Verurteilungen zu zählen. Viel wichtiger sei die Kommunikation über solche Prozesse. Sie sende ein Signal an die jeweiligen Konfliktbeteiligten, dass sie im Fall von Verbrechen durchaus mit Strafverfolgung rechnen müssen. "Das Völkerstrafrecht ist nicht so zahnlos", betonte Bock.
Richterin Höfer wies auf die Bedeutung der strafrechtlichen Aufarbeitung für die Opfer und Angehörigen hin. Das Jugoslawien-Tribunal habe es vielen Opfern ermöglicht, vor Gericht auszusagen. "Viele von ihnen sagen, dass diese Aussage für sie beim Prozess der Heilung maßgeblich war", betonte Höfer, "jeder Prozess hilft den Opfern, mit dem begangenen Unrecht fertig zu werden."
Viviane Dittrich, Vize-Direktorin der Internationalen Akademie "Nürnberger Prinzipien", erinnerte schließlich an einen Ausspruch von Benjamin Ferencz, des letzten noch lebenden Nürnberger Anklägers: "Never give up".
Virtuelles Podium des BMJV: . In: Legal Tribune Online, 24.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43522 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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