2013 hat der EuGH entschieden, dass der Erwerber eines Betriebs nicht ohne Weiteres an Vereinbarungen gebunden sein darf, auf die er selbst keinen Einfluss nehmen konnte. Das BAG hält nun dagegen – aber nur halbherzig, erklärt Martin Gliewe.
Muss der Erwerber eines Betriebs Lohnerhöhungen aus dem Tarifvertrag des Betriebsveräußerers zahlen? Und muss er dies auch dann, wenn er selbst überhaupt nicht tarifgebunden ist?
Zwei Gerichte, zwei Meinungen:
Nein, sagte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vor zwei Jahren in seiner "Alemo-Herron-Entscheidung" (v. 18.07.2013, Az. C-426/11).
Ja, sagte bislang das Bundesarbeitsgericht (BAG). Mit dem Vorabentscheidungsersuchen vom heutigen Tage (Az. 4 AZR 59/14) könnte die mittlerweile gefestigte Rechtsprechung des BAG jedoch ins Wanken geraten. Mit dem Beschluss hat der Vierte Senat des BAG den EuGH nach der Vereinbarkeit seiner bisherigen Auslegung von § 613a Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit dem Unionsrecht befragt, insbesondere mit Art. 3 der Betriebsübergangs-RL.
Dabei wäre eine Vorlage der Rechtsfrage an den EuGH möglicherweise gar nicht erforderlich gewesen. Dazu folgendes Gedankenspiel:
Der Käufer, ein privates Unternehmen, erwirbt, sagen wir, ein öffentliches Krankenhaus. Viele der Arbeitnehmer des Krankenhauses unterliegen den Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes (bspw. dem TVöD). Manche Arbeitnehmer deshalb, weil sie Gewerkschaftsmitglieder sind, andere, weil ihre Arbeitsverträge eine sogenannte Bezugnahmeklausel enthalten ("Auf das Arbeitsverhältnis finden die tariflichen Bestimmungen des öffentlichen Dienstes in ihrer jeweils geltenden Fassung Anwendung"). Wird ein Betrieb erworben, scheinen die arbeitsrechtlichen Rechtsfolgen auf erste Sicht klar zu sein: Der Erwerber tritt gemäß § 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in die Arbeitgeberstellung und damit in alle Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ein.
Tariflohnerhöhungen auch für nicht tarifgebundene Arbeitgeber?
Was aber, wenn – unter Umständen erst nach Jahren – die so übernommenen Arbeitnehmer ein höheres Gehalt fordern, weil es zu Tariflohnerhöhungen gekommen ist? Tariflohnerhöhungen, die den Erwerber – mangels eigener Tarifbindung – im Grunde gar nichts angehen? Dem BAG zufolge gelten dynamische Bezugnahmeklauseln ("in ihrer jeweils geltenden Fassung") nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auch nach einem Betriebsübergang dynamisch weiter. Schlechte Karten für den Arbeitgeber also: Die Arbeitnehmer profitieren folglich auch bei einem nicht tarifgebunden Betriebserwerber weiter von einer Erhöhung der in Bezug genommenen Tarifverträge.
Vereinbarkeit mit Unionsrecht?
Nach besagter "Alemo-Herron-Entscheidung" des EuGH stellte sich allerdings die Frage, ob diese Rechtsprechung des BAG weiterhin mit dem Unionsrecht zu vereinbaren ist. Insbesondere dann, wenn der Betriebserwerber keinen Einfluss auf die künftig geltenden Tarifverträge nehmen kann, dürften diese nicht dynamisch gegenüber diesem gelten, so der EuGH in der aus dem englischen Tarifvertragsrecht stammenden Entscheidung. Eine andere Bewertung stelle einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf unternehmerische Freiheit dar.
Auch nach deutschem Recht ist es durchaus möglich, dass der Betriebserwerber dem vertragsschließenden Arbeitgeberverband nicht angehört und unter Umständen auch nicht angehören kann (etwa – wie vorliegend – für einen privaten Arbeitgeber bei einer Inbezugnahme des TVöD). Eine – wie vom EuGH geforderte – Einflussnahme auf Tarifvertragsinhalte wäre damit nicht möglich.
Unterschiede in europäischen Rechtsordnungen
Also doch ein Aufatmen für Betriebserwerber? Nicht unbedingt.
Auch wenn die Sachverhalte vergleichbar sind, besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der – auf einem Sachverhalt aus England basierenden – Entscheidung des EuGH und der heutigen Entscheidung des BAG: Die normative Wirkung von Tarifnormen.
Sofern die Arbeitsverhältnisse tarifgebundener Arbeitnehmer auf einen nicht tarifgebundenen Betriebserwerber übergehen, werden die normativ wirkenden tariflichen Regelungen nach deutschem Recht geschützt (§ 613a Abs. 1 Satz 2 BGB): sie werden Inhalt des Arbeitsverhältnisses und dürfen für (mindestens) ein Jahr nicht zum Nachteil der Arbeitnehmer geändert werden. Diese sog. Veränderungssperre basiert auf Art. 3 Abs. 3 der europäischen Richtlinie 2001/23/EG (Betriebsübergangs-RL).
Eine – wie im aktuellen BAG-Verfahren – arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel ist hingegen dem Individualarbeitsrecht zuzuordnen. Im Falle eines Betriebsüberganges geht eine Bezugnahmeklausel als Bestandteil des Arbeitsvertrages mit dem Arbeitsverhältnis nach § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB auf den Erwerber über. Es spielt dabei keine Rolle, ob die in Bezug genommenen Tarifverträge auch nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB beim Erwerber (kollektivrechtlich) normativ weitergelten. Diese individualrechtliche Weitergeltung basiert auf Art. 3 Abs. 1 Betriebsübergangs-RL.
Andere Ausgangslage in England…
Das englische Recht kennt hingegen keine normative Geltung von Tarifnormen. Im englischen Tarifvertragsrecht sind arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln erforderlich, um eine rechtsverbindliche Wirkung des Tarifvertrags im einzelnen Arbeitsverhältnis zu begründen. Rechtsnormen eines Tarifvertrags können daher in England nach einem Betriebsübergang nur aufrechterhalten werden, wenn auch die Bezugnahmeklausel weiter Bestand hat. Damit ging es in der Entscheidung des EuGH funktional um die kollektiv-rechtliche Wirkung und somit um Art. 3 Abs. 3 der Betriebsübergangs-RL.
Während die Bezugnahmeklauseln in Deutschland also einen Fall des Art. 3 Abs. 1 Betriebsübergangs-RL darstellen, betreffen die englischen Bezugnahmeklauseln Art. 3 Abs. 3 Betriebsübergangs-RL.
… begründet anderes Ergebnis in Deutschland?
Diese Unterscheidung erfordert eine unterschiedliche rechtliche Bewertung der beiden Konstellationen.
Wir erinnern uns: Die in einem Tarifvertrag geregelten Arbeitsbedingungen unterliegen nach Art. 3 Abs. 3 Betriebsübergangs-RL einer Veränderungssperre und damit einem erhöhten Schutz. Der Betriebserwerber ist also mindestens ein Jahr an die tarifvertraglichen Regelungen gebunden.
Art. 3 Abs. 1 sieht einen solchen Schutz für die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag hingegen nicht vor. Der Arbeitsvertrag kann vielmehr jederzeit geändert werden, sei es durch eine Vertragsänderung oder eine Änderungskündigung.
Die Argumentation des EuGH ist damit nicht auf die Bezugnahmeklausel im aktuellen BAG-Verfahren übertragbar. Die Beklagte konnte zwar als Betriebserwerberin keinen Einfluss auf die Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst nehmen. Sie kann aber mangels Geltung der Veränderungssperre des § 613a Absatz 1 Satz 2 BGB bzw. Art. 3 Abs. 3 der Betriebsübergangs-RL mit ihren Arbeitnehmern Vertragsänderungen vereinbaren oder ggfs. eine Änderungskündigung aussprechen. Damit ist ihr Recht auf unternehmerische Freiheit ausreichend geschützt, der tragende Beweggrund für die Entscheidung des EuGH also gewahrt.
Gleichwohl hat der Vierte Senat des BAG mit heutiger Entscheidung den EuGH um eine Vorabentscheidung zur Vereinbarkeit seiner Auslegung von § 613a Abs. 1 BGB mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 3 der Betriebsübergangs-RL, ersucht. Auch wenn es hierdurch spannend bleibt und Arbeitgeber sich zumindest einen Funken Hoffnung bewahren können – die Rechtssicherheit liegt vorerst auf Eis.
Der Autor Martin Gliewe ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei Noerr LLP in Frankfurt. Er berät Unternehmen in allen Fragen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts, insbesondere im Rahmen von Umstrukturierungen.
BAG zur dynamischen Fortgeltung von Bezugnahmeklauseln: . In: Legal Tribune Online, 17.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15909 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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