Wenn es um Schadensersatzforderungen wegen Nebenwirkungen von Medikamenten geht, ist von einer Waffengleichheit der Parteien vor Gericht nichts zu sehen. Zwar gibt der Gesetzgeber den Patienten immer mehr Rechte – allerdings ohne sichtbaren Erfolg: Gegen ein Pharmaunternehmen hat in Deutschland noch nie ein Patient einen Prozess gewonnen. Von Dr. Stefan Rusche.
Wer eine Arztpraxis betritt, verlässt sie regelmäßig mit einem Zettel in der Hand: Dem Rezept. Antibiotika, Blutdrucksenker, Antidepressiva, Beruhigungsmittel oder Schmerzmittel - die ärztliche Standardtherapie heißt Pharmakotherapie, und das meint das Verschreiben von Medikamenten. So geschieht es täglich hunderttausendfach - und nie ohne Nebenwirkungen, denn jährlich sterben nach sachverständigen Schätzungen tausende Menschen an den Begleitfolgen einer medikamentösen Behandlung.
Etwa 40.000 Klagen gegen Ärzte wegen echter oder vermeintlicher Kunstfehler stehen aber nur wenige Klagen gegen Pharmahersteller gegenüber; die Prozesse werden in Deutschland regelmäßig verloren. Kommt es zum Streit, sieht das Recht zwar im Verhältnis von Patient und Pharmahersteller Waffengleichheit vor. Die Realität ist aber eine andere: Die Patienten sehen sich vor den Gerichten mit unmöglich zu erfüllenden Beweisanforderungen konfrontiert.
Aggressive, kompetente Lobbyarbeit - in Deutschland Fehlanzeige
Auch nach der Einführung einer verschraubt formulierten Gefährdungshaftung in § 84 Absatz 2 des Arzneimittelgesetzes (AMG) im Jahr 2002 hat noch kein Patient einen Prozess gegen einen Pharmahersteller gewonnen. Die Begründung lautet bei den meist kranken Klägern immer noch regelmäßig: Es könnten ja auch andere Ursachen sein, die zu diesem schweren gesundheitlichen Schäden geführt haben. Ein Argument, das mit der Einführung des § 84 Absatz 2 an Überzeugungskraft verloren haben sollte.
Patientenanwälte sind frustriert. "Mit diesem Argument, das ganz einfach ein Totschlagsargument ist, können sie einen Prozess gegen einen Pharmahersteller nicht erfolgreich führen", fasst ein erfahrener Vertreter seiner Zunft die Rechtslage zusammen.
Anders sieht es in den USA aus: Dort erstritten beispielsweise im Jahr 2007 organisierte Patientenanwälte eine Entschädigungssumme von mehr als umgerechnet vier Milliarden Euro vom Hersteller Merck, der das Schmerzmittel Vioxx im Wissen um das erhöhte Herzinfarktrisiko am Markt belassen hatte. Das als "Super-Aspirin" verkaufte Schmerzmittel war auch in Deutschland ein Verkaufsschlager, und auch hierzulande wurden Tausende geschädigt.
Die deutschen Patientenanwälte laufen sich aber gegen den Konzern nebst seiner Anwälte und Gutachter wund. Es fehlt die aggressive, kompetente Lobbyarbeit ihrer US-amerikanischen Kollegen, das Instrument der Sammelklage, Strafschadensersatz und der öffentlichkeitswirksame Juryprozess, um es mit dem Hersteller wirksam aufnehmen zu können.
"Wie groß ist denn der Nutzen, Frau Doktor?"
Erfolgreiche Lobbyarbeit und Marketing sind Schlüssel für die Macht der deutschen Pharmabranche. Werbung für Arzneimittel in Publikumsorganen ist in Deutschland zwar verboten.
Mit zielgerichtetem Marketing in Krankenhäusern und Arztpraxen kommen die Konzerne aber dennoch ans Ziel. Im Rücken der Patienten hinterlassen Pharmavertreter auf den Schreibtischen der Ärzte eine Fülle von bunten Prospekten, die Medikamentenwirkungen werbend übertreiben und Nebenwirkungen verschleiern. "Studien werden letztendlich passend gemacht", weiß eine ehemalige Pharma-Managerin zu berichten, die für die entsprechenden Untersuchungs- und Prospektdesigns zuständig war und nicht namentlich genannt werden möchte.
Und auch der Beipackzettel ist nicht so hilfreich, wie viele annehmen. Er dient mehr der juristischen Absicherung des Herstellers als der umfassenden Aufklärung des Patienten. Auf Risiken und Nebenwirkungen wird zwar hingewiesen, doch geschieht dies in kleinen, für ältere Menschen kaum lesbaren Buchstaben und – viel entscheidender - ohne Hinweis auf den Nutzen des Medikaments.
Denn der Medikamentennutzen ist nicht immer so groß, dass er das Risiko von Nebenwirkungen rechtfertigen würde. In Deutschland wird viel Geld für Arzneimittel ausgegeben, die den Patienten relativ wenig nützen. Es gilt nicht selten das alte Sprichwort "Eine Erkältung dauert eine Woche, mit Medikamenten sind es nur sieben Tage.".
Richtig ist zwar, dass Medikamente immer besser werden. Richtig ist aber auch, dass der Zusatznutzen nicht ohne Preis zu haben ist. Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer vom Harding Center für Risikokompetenz möchte daher bessere Beipackzettel mit klareren Informationen – und mündigere Patienten, die mehr Fragen stellen, Statistiken und Zahlen auch hinterfragen: "Aber dazu braucht man auch informierte Patienten, die selbst verstehen, dass nicht jedes Medikament nun eine sichere Wirkung hat, sondern die auch fragen: 'Wie groß ist denn der Nutzen, Frau Doktor?'"
Dr. Stefan Rusche ist auf das Medizinrecht spezialisierter Rechtsanwalt und Wissenschaftsjournalist.
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