2/2: Contra Dritter Weg
In der Bundesrepublik Deutschland sind in kirchlich getragenen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Kindertagesstätten cirka 1,2 Millionen Menschen tätig. Seit den 1970er Jahren hat die Zahl der Kirchenmitglieder stark abgenommen. In demselben Zeitraum haben die Kirchen die Zahl ihrer Beschäftigten jedoch vervierfacht. Zunehmend sind sie darauf angewiesen, Mitarbeiter einzustellen, die der Kirche gar nicht angehören; sonst müssten sie viele Einrichtungen schließen. Zugleich haben sie ihr Arbeitsrecht, den sogenannten Dritten Weg, immer stärker vom staatlichen Recht abgelöst. Im Rechtsvergleich handelt es sich um einen deutschen Sonderweg. Aus ihm resultiert ein Berg ungelöster Probleme.
Nein zum Streik sagen die Kirchen nur bei sich
Ein Symbol für das deutsche kirchliche Arbeitsrecht bildet das Verbot von Arbeitsstreiks. Für das Verbot fehlt aber ein triftiger Grund. Soweit es überhaupt begründet wurde, hieß es, gegen Gott könne man nicht streiken. Die kirchlich praktizierte Nächstenliebe dürfe durch Streik nicht unterbrochen werden - als ob in kirchlichen Einrichtungen permanent das Hochethos der Nächstenliebe realisiert würde und bei Kirchen keine Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern existierten. Ferner irritiert, dass die Kirchen das Streikrecht an sich bejahen. Ihr Nein gilt nur für den eigenen Bereich. Hiermit sichern sie sich Wettbewerbsvorteile. Ihren Beschäftigten kommt zugute, was andere Arbeitnehmer notfalls durch Streik erwirkt haben. Denn die Kirchen kommen nicht umhin, wenigstens im Prinzip anderweitig erreichte Tarifverbesserungen zu übernehmen. Für kirchliche Mitarbeiter ist nicht plausibel, warum ihnen selbst das Streikrecht versagt wird und dass sie von den Initiativen anderer Arbeitnehmer abhängig sind.
Das Arbeitsrecht der deutschen Kirchen ist intransparent und an wichtigen Punkten grundrechtswidrig. Es verweigert elementare Arbeitnehmerrechte, z.B. die Unternehmensmitbestimmung, und es schneidet in Grundrechte ein, etwa in die Gewissens- und Glaubensfreiheit (absolutes Verbot von Kirchenaustritt oder -übertritt), in die Berufsausübungsfreiheit (keine Aufstiegschancen für muslimische Erzieherinnen) oder aufgrund der katholischen Ehe- und Sexuallehre in das Recht auf Privatleben.
"Korporative Religionsfreiheit der Kirchen kein Obergrundrecht"
Formal stützen sich die Kirchen auf ein extensiv ausgelegtes Selbstverwaltungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV sowie auf die in Art. 4 GG genannte Religionsfreiheit. Nur: Art. 4 GG schützt die Gewissens- und Glaubensfreiheit der einzelnen Menschen. Zwar lässt sich hieraus indirekt, sekundär auch die korporative Selbstbestimmung von Kirchen ableiten. Jedoch ist die normative Logik der Grundrechte zu beachten. Ihr Sinn ist es, persönliche Abwehr- und Freiheitsrechte für die einzelnen Menschen zu garantieren. Dieses Anliegen wird unterlaufen, wenn die korporative Religionsfreiheit der Kirchen quasi zum Obergrundrecht erklärt wird, so dass die persönlichen Grundrechte von Arbeitnehmern von ihm überlagert werden. Die kirchlich Beschäftigten – von Ärzten bis zu Erzieherinnen – werden hierdurch zu Staatsbürgern mit reduzierten Grundrechten. Dies ist auch deshalb zu kritisieren, weil die Kirchen besonders große Arbeitgeber sind. Außerdem werden ihre Einrichtungen weitestgehend öffentlich refinanziert.
Bewegung durch Gerichtsurteile
Angestoßen durch Gerichtsurteile ist jetzt ein wenig Bewegung entstanden. Zögerlich nehmen die Kirchen Reformen vor. Im April 2015 mäßigte die katholische Kirche ihren Anspruch, auf das Privatleben ihrer Arbeitnehmer durchzugreifen. So soll eine Wiederverheiratung wenigstens nicht mehr automatisch zur Kündigung führen. Die Zugeständnisse bleiben jedoch zu begrenzt und viel zu unklar. Die Kirchen geben gegebenenfalls so viel nach, wie es durch externen Druck unerlässlich ist. Für ihre Beschäftigten bleiben Rechtsunsicherheiten und mangelnder Grundrechtsschutz bestehen. In Zukunft könnten überdies islamische Wohlfahrtsverbände die gleichen Sonderrechte beanspruchen wie die Kirchen, wodurch das Arbeitsrecht in Deutschland noch weiter zersplittert würde. Um die Probleme zu beheben, sollte – bei Wahrung des Tendenzschutzes – für Kirchen und für Religionsgemeinschaften anstelle des Dritten Weges künftig das staatliche Arbeitsrecht gelten, an das auch alle sonstigen Arbeitgeber gebunden sind.
Der Autor Hartmut Kreß ist Inhaber des Lehrstuhls Sozialethik in der Universität Bonn. Für die Hans Böckler-Stiftung verfasste er das Gutachen: "Die Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht - sozialethisch vertretbar? Ein deutscher Sonderweg im Konflikt mit Grundrechten" (Nomos-Verlag 2014).
Pro & Contra Dritter Weg: . In: Legal Tribune Online, 24.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15860 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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