Nach dem Freitod eines jungen Türken etablierte sich von Berlin aus vor 40 Jahren das Kirchenasyl. Eine gesetzliche Grundlage dafür gibt es nicht, aber Absprachen zwischen Innenministerium und Kirchen. Ein Blick zurück und nach vorn.
Gerjet Harms war 62 Jahre alt, als er sich zum ersten Mal in seinem Leben auf der Anklagebank wiederfand. Er war damals Pastor in einer Gemeinde in Hildesheim und hatte mit einem Kreis von Unterstützer:innen einer kurdischen Familie Kirchenasyl gewährt. Er sollte wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt eine hohe Geldstrafe bezahlen – und weigerte sich. "Wir waren damals dringend gebeten worden, einer Familie in Not zu helfen", erinnert sich der inzwischen 84-Jährige. "Und wir handeln ja nicht nur im Dienste Gottes, sondern auch zum Wohle der Menschen. Da kann man doch gar nicht anders". Einer kurdischen Familie drohte damals die Abschiebung in die Türkei, dabei galt der Mann dort als Unterstützer der PKK, die Involvierten befürchteten damals schlimmste Folter im Falle einer Rückkehr.
Seine Gemeinde ist eine von vielen, die seit vier Jahrzehnten in Deutschland Kirchenasyl gewähren. Es wird eingerichtet, wenn die Ausländer:innen Gefahr laufen, Deutschland verlassen zu müssen. Dies etwa, weil die Asylverfahren in Deutschland erfolglos abgeschlossen sind und eine Abschiebung droht oder weil die Überstellung in ein anderes europäisches Land nach den so genannten Dublin-Regeln bevorsteht. Nach den Dublin-Regeln ist das europäische Land für das Verfahren der Ausländer:innen zuständig, in dem ein:e Ausländer:in erstmals europäischen Boden betreten hat.
Doch oft ist es nicht so einfach: Die Kirchen sind In den Fällen, in denen sie in die Verfahren eintreten, davon überzeugt, dass in den Verfahren nicht alles zur Sprache gekommen ist. Sie sind davon überzeugt, die Fälle selbst genauer beurteilen können, als dies den Sachbearbeitern in den zuständigen Behörden in der Kürze der Zeit und den formalisierten Verfahren möglich ist und daher die Härtefälle erkennen. Dann schreiten sie ein.
Aktuell 655 Personen in 431 Kirchenasylen
Die erste organisierte Initiative zum Kirchenasyl liegt 40 Jahre zurück – auch das Kirchenasyl in einer jahrhundertealten Tradition der Kirchen steht. Damals, am 30. August 1983, starb in Berlin der 23-jährige politische Flüchtling Cemal Kemal Altun. Er stürzte sich aus Angst vor einer Auslieferung an die Türkei aus dem Fenster eines Gerichtssaals. Im selben Jahr organisierte eine Gemeinde in Berlin das erste Kirchenasyl, "das heute als Initialzündung für die moderne Kirchenasylbewegung in Deutschland gilt".
Aktuell sind nach Angaben der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V. – dem organisatorischen Zusammenschluss der Kirchenasylbewegung in Deutschland – 431 aktive Kirchenasyle mit mindestens 655 Personen, davon sind etwa 136 Kinder, bekannt. 405 der Kirchenasyle sind sogenannte Dublin-Fälle. Im Jahr 2023 wurden bereits 285 Kirchenasyle mit 423 Personen, davon 88 Kindern, mit unterschiedlichen Folgen beendet. Der Verein führt seit Jahren Statistiken über die in den jeweiligen Bundesländern gewährten Kirchenasyle.
Eine rechtliche Grundlage dafür gibt es nicht. "Das Kirchenasyl ist nicht explizit gesetzlich geregelt, aber wissenschaftlich und landeskirchlich wird es manchmal aus dem Grundgesetz hergeleitet", sagt Johanna du Maire, juristische Referentin bei der Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union. Die EKD verstehe das Kirchenasyl als Schutz "vor individueller Härte in besonderen Einzelfällen", so du Maire.
Vereinbarung zwischen Bund und Kirchen
Rechtlich greifbar sei das allerdings kaum, sagt die Juristin selbst. Gegner des Kirchenasyls sagen sogar, die Moral stelle sich über das Gesetz.
Du Maire aber nennt eine Vereinbarung, verhandelt vom Bundesinnenministerium und den beiden großen christlichen Kirchen im Jahr 2015. Das geschah, nachdem der damalige Innenminister Thomas de Mazière das Kirchenasyl mit der Scharia verglichen hatte – eine Äußerung, die er später zurücknahm.
Diese Vereinbarung beinhaltet Verfahrensabsprachen zum Kirchenasyl zwischen den Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) – um künftig Verstimmungen bei allen Beteiligen zu vermeiden. Sie hat ein System von Ansprechpartner:innen für Kirchenasyle auf Länderebene hervorgebracht, die z.B. regional bei der Diakonie angestellt sind: Will eine Gemeinde ein Kirchenasyl gewähren, informiert sie seitdem diese Ansprechperson. Gemeinde und die zentrale Ansprechperson erstellen dann ein sogenanntes Dossier. In dem wird dargelegt, warum eine Abschiebung oder Überstellung der ausländischen Person in dem konkreten Fall eine besondere Härte bedeuten würde. Diese Information bekommt das BAMF, zudem werden sofort Ausländerbehörde und Polizei über den Aufenthaltsort der Person informiert.
Damit wissen alle nötigen Stellen, wo sich der:die Ausländer:in aufhält. Das ist wichtig, denn wer als ausländische Person untertaucht, gilt nach der Dublin-III Verordnung als 'flüchtig' und die Überstellungsfrist verlängert sich auf 18 Monate (Art. 29 Abs. 2 Dublin-III VO). "Die Innenministerkonferenz (IMK) hat im Jahr 2018 einseitig entschieden, dass diese Menschen im Kirchenasyl als flüchtig anzusehen sind", erklärt EKD-Referentin du Maire. Nach entsprechender Rechtsprechung vom Europäischen Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 19.03.2019, Az. C-163/17 (Jawo)) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 26.01.2021, Az. 1 C 42.20), dass diese Auslegung nicht haltbar sei, da der Aufenthaltsort der Person eben bekannt ist, sei diese Wertung im Jahr 2020 aber zurückgenommen worden, so du Maire.
Strafrecht gegen Unterstützer von Ausländern
Dieser Straftatbestand des Aufenthaltsgesetzes wurde auch Pfarrer Gerjet Harms zum Verhängnis. Denn wie zu jeder anderen vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat, kann man grundsätzlich auch zum unerlaubten Aufenthalt Beihilfe gem. § 27 Strafgesetzbuch leisten. Gegen Ausländer:innen selbst hatte das Oberlandesgericht (OLG) München vor einigen Jahren entschieden, Kirchenasyl schütze nicht vor Strafverfolgung wegen illegalen Aufenthalts in Deutschland (Urt. v. 03.05.2018, Az. 4 OLG 13 Ss 54/18). Und auch gegen Pfarrer und andere Geistliche habe es in Bayern bereits einige Anklagen gegeben, erzählt du Maire.
Das änderte sich mit einer Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayOLG, Urt. v. 25.02.2022, Az. 201 StRR 95/21). Demnach könnten sich Pfarrer nicht strafbar machen, wenn die Ausländer:innen wie beim Kirchenasyl nicht untertauchten – es fehle an einer rechtswidrigen Haupttat, weil die Behörden über den Aufenthalt informiert seien. Der kurze Zeitraum, in dem die Behörden über den Aufenthalt informiert sind, aber das Dossier für das BAMF noch erstellt werden muss,,reiche für die Annahme einer Strafbarkeit aber nicht aus.
Und selbst wenn das BAMF den Fall trotz des Dossiers ablehnend bescheidet, das Kirchenasyl fortbesteht und die Behörde bei der Ausreisepflicht der ausländischen Person bleibt, könne dies keine Strafbarkeit der Unterstützer begründen, entschied das BayObLG. "Man könnte in dem Fall nur eine Strafbarkeit durch Unterlassen annehmen, wenn die Gemeinde verpflichtet wäre, das Kirchenasyl zu beenden", erklärt du Maire. Doch das BayObLG lehnte eine solche Pflicht ab und habe die Aufrechterhaltung des Kirchenasyls nicht als strafbare Hilfeleistung zum unerlaubten Aufenthalt gewertet.
"Kostet Deutschland keinen Cent"
Doch ob es bei dieser Wertung bleibt? Die Vereinbarungen jedenfalls scheinen nicht überall mehr ernst genommen zu werden. Im Juli war ein kurdisches Paar im Kreis Viersen aus dem Kirchenasyl in Abschiebehaft genommen worden. Auch in Darmstadt befürchtet das Ökumenische Bündnis den Bruch des Kirchenasyls für einen Syrer.
Zu einer generellen Erschwernis würde es zudem kommen, wenn mit den Plänen für ein gemeinsames europäisches Asylsystem (GEAS) die Überstellungsfrist in den Dublin-Verfahren von sechs auf 18 Monate verlängert wird – dann müssten die Ausländer:innen noch länger im Kirchenasyl ausharren, bis Deutschland in die Fälle gesetzlich eintritt. Dieses Eintreten in das Verfahren geschieht qua Gesetz, wenn zwar nach den Dublin-Regeln ein anders europäisches Land für die Ausländer:innen zuständig ist, eine Überstellung in dieses Land jedoch nicht innerhalb der derzeit geltenden sechs-Monats-Frist erfolgt.
Die Kosten für die Versorgung und Unterbringung der Personen trägt in der Zeit die Gemeinde, erzählt der ehemalige Pastor Harms: "Solange die Menschen im Kirchenasyl sind, kostet das Deutschland keinen Cent". Über sich selbst und sein Strafverfahren mag er kaum reden, das sei ja gut ausgegangen, das Verfahren wurde eingestellt und als Ordnungswidrigkeit gewertet, er habe 500 Euro Geldbuße bezahlen müssen.
Für die Menschen, die bei ihm und dem Unterstützerkreis im Kirchenasyl waren, ist es noch besser ausgegangen - von diesen Menschen wurde niemand abgeschoben. Das ging aber nicht allen Ausländern so, mit denen er seinerzeit Kontakt hatte. "Für diese Betroffenen bleibt das Trauma. So etwas ist eine ganz unwürdige Geschichte – für uns, für unser Land, für unser Grundgesetz".
40 Jahre Kirchenasyl in Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 30.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52592 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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