Gerichtsjournalismus: Scharfe Worte für eine überdehnte Justiz

von Martin Rath

20.04.2014

2/2: Darf oder kann man so heute noch erzählen?

Wird dem Strafprozess nun schon seit Jahren angekreidet, er sei zu täterorientiert, als ob das sinnvoll auch anders sein könnte, erwartet das lesende Publikum heute womöglich doch mehr Empathie mit den Opfern. Ob die Tergit ihr mit wenigen Worten bissig gezeichnetes Beziehungsdrama von einer Ehe aus wirtschaftlichen Motiven und von dem Mord, bedingt durch krankhafte Bindungswünsche, so kurz und herzlos heute noch erzählen dürfte?

Um das Beispiel zu wechseln: Ein linksradikaler Redakteur schrieb über einen Priester, der in einem Bordell angetroffen worden war, "mit einem Drittel Ehrlichkeit, einem Drittel Pikanterie und einem Drittel Schlagworten und wirft der katholischen Kirche Erziehung zu Betrug, Heuchelei und Perversität vor." Wegen dieser "Gotteslästerung" angeklagt, strafbar nach § 166 Reichsstrafgesetzbuch, äußert sich der jugendliche Linksradikale zur Sache und zur Person, es "beginnt seine ausführliche Verhedderung, die man Weltanschauung nennt", womit Tergit eine griffige Definition von "Weltanschauung" liefert.

Vertrauenskrise der Justiz

Der Gotteslästerer lässt sich im Anschluss an seine Verhedderung – auf die Frage des Richters, ob er glaube, freigesprochen zu werden! – noch dahin ein, dass es ihm gleichgültig sei, O-Ton: "Er sagt lächelnd: 'Ich lebe in einer anderen Welt', wobei sein Stenograph sich niederbeugt und es mitschreibt." Tergit bemerkte dazu, dass sich "diese modernen Christusse" zwar gerne kreuzigen ließen, "aber der Stenograph muß es für die Nachwelt aufzeichnen".

So sehr Tergits Gerichtsberichte hübsche, böse Miniaturen sind, sind sie Zeugnisse einer – hoffentlich – untergegangenen Welt. Das Kaiserreich kannte, erst mit dem strafrechtlichen Schutz von Glaube, Sitte und Moral, dann durch die kriegswirtschaftlichen Vorschriften, die noch in die staatlich gesteuerte Nachkriegswirtschaft verlängert wurden, eine dramatische Überdehnung des Strafrechts: Ein überteuertes Glas Milch genügte, eine schlichte Gastwirtin vors Sondergericht zu bringen.

Gustav Radbruch (1878-1949), der Rechtsphilosoph und SPD-Politiker – Nachgeborenen ist er von der "Radbruch’schen Formel bekannt", mit der er 1946 der Rechtsdogmatik soweit die Schnürsenkel lockerte, dass Juristen noch heute darüber stolpern – rief 1926 eine "Vertrauenskrise der Justiz" aus. Auf Fehlurteile oder strafbares Verhalten in der Richterschaft reagiere die Justiz durch "(g)ekränkte Zurückweisung der Vorwürfe, halbgewollte Blindheit gegen Mißstände, überlegene Gleichgültigkeit gegen den Tadel, jedenfalls Mangel, jedes Willens, sich mit dem bedrohlich gewachsenen Mißtrauen … sachlich auseinanderzusetzen".

Daran, dass man der Justiz nicht den Auftrag geben sollte, ein völlig überdehntes materielles Strafrecht anzuwenden, dachte der Gelehrte dabei weniger. Sanktionsgläubige Rechtspolitiker ließen sich schon damals ihr Spielzeug ungern nehmen. Das Protokoll der Reichskabinettssitzung, in der die Abschaffung der Wuchergerichtsordnung auf der Tagesordnung stand, verzeichnet beispielsweise von Seiten des Arbeitsministers Bedenken, weil die Preise vielfach noch außergewöhnlich hoch seien, während der Justizminister darauf hinwies, dass "keinesfalls materielle Wucherbestimmungen aufgehoben würden".

Gabriele Tergit hat wunderbare Gerichtsreportagen geschrieben, die zu lesen unbedingt lohnt. Sollte ihr oft bissiger und melancholischer Ton, in dem sie den Untergang der kleinen Leute vor den Schranken der Justiz schilderte, in die heutige Gerichtsberichterstattung wieder einziehen, dann wüssten wir: Das Strafrecht ist – wieder – hoffnungslos überdehnt.

Literatur: Gabriele Tergit: "Wer schießt aus Liebe?", herausgegeben von Jens Brüning, Verlag das Neue Berlin, 1999. Robert Kuhn: "Die Vertrauenskrise der Justiz", Köln 1983.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Gerichtsjournalismus: . In: Legal Tribune Online, 20.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11745 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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