Tatort Freibad: Nackt, laut und die Manieren wollen erst gelernt sein

von Martin Rath

23.07.2023

Allerlei Straftaten bringen derzeit die Freibäder ins Gerede. Ein Berufspolitiker verlangt rasches Aburteilen. Der Blick in ältere Entscheidungen zeigt: Der Badebetrieb hatte schon immer juristisches Konfliktpotenzial.

Über die parallele Konjunktur von Ideen und der populären Kultur, die nicht recht zusammenpassen, kann man manchmal nur vorsichtig staunen. In den 1950er und 1960er Jahren entfaltete etwa der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen (1904–1976) vor allem durch regelmäßige Vortrags- und gelegentliche Rundfunkarbeit eine deutlich über den akademischen Betrieb hinausgehende Bekanntheit.  

Als vorbildlich für den Austausch unter Gelehrten, die sich weder biografisch noch politisch glichen, darf beispielsweise eine Serie von Diskussionen mit seinem weltanschaulichen Gegenspieler Theodor W. Adorno (1903–1969) gelten. 

Bis heute fehlt in keiner Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie eine zentrale Aussage aus Gehlens Hauptwerk "Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt" – der Mensch sei ein "Mängelwesen" (1. Auflage 1940; hier zitiert nach der Klostermann-Ausgabe, 2016).  

Er sei folglich durch Mängel bestimmt, "die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit." 

Von diesem Ausgangspunkt nutzt der Mensch, so Gehlen, Technik in einem weit gefassten Sinn: Er kleidet sich nicht nur, um die fehlende Behaarung zu kompensieren, oder nutzt Werkzeuge, um stärkere Kräfte zu entfalten. Auch beispielsweise die Institutionen des Staates sind soziale Technik, die dem Mängelwesen ein gedeihliches Leben erlauben. 

Freibad als symbolischer Gegenort sozialer Institutionen 

Während nun der konservative Intellektuelle Gehlen daran arbeitete, seine Lehre vom Wert der Institutionen zu verbreiten, wurde die Sängerin und Schauspielerin Cornelia Froboess (1943–) in ihrer Rolle als "Berliner Göre" mit dem Lied "Pack die Badehose ein" bekannt. 

Der Text dieses kurzen Liedes – der achtjährige Kinderstar Froboess sollte 1951 damit wohl nicht überfordert werden – thematisiert die Sehnsucht von Jugendlichen, ihre Zeit nicht für kulturelle Institutionen, die Schule, aber auch das Kino, aufzuwenden, sondern die Badehose einzupacken, um im nächsten größeren Gewässer baden zu gehen. 

Im Freibad herrscht zwar selbst bei Abwesenheit einer Aufsichtsperson keine völlige Regellosigkeit, doch müssen die Besucher mit einer Situation zurechtkommen, die sie im Alltag nicht erleben. Wo sonst etwa die Kleidung ihren sozialen Stand zeigt, in den 1950er Jahren vielleicht mehr als heute, begegnen sich die Menschen hier nun im Wesentlichen nackt. 

Das Freibad als Gegenort gewöhnlicher sozialer Ordnung zog auch in den 1950er Jahren schon Menschen an, die mit den dort geltenden, unter den Badenden stillschweigend beachteten Regeln nicht gut zurechtkamen. 

Erotikmagazin im Deutschland Konrad Adenauers 

Gegen die ungeschriebenen Spielregeln des Badebetriebs unter freiem Himmel zweifellos verstoßen hatte im Jahr 1952 ein Mann von Ende 40, der anderen Badegästen, zudem im Alter von neun bis 13 Jahren, ein Magazin zeigte, in dem teils unbekleidete Frauen abgebildet waren. Die Kinder sollten ihm erklären, welche der Abbildungen ihnen zusagten. 

Im Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 17. September 1953 heißt es weiter: "Bei einem Bild drückte der Angeklagte mit einem Finger auf die Brust der nackten Frau und machte 'pöt, pöt', eine Autohupe nachahmend; er sagte dabei auch, die Frau habe ganz schöne 'Tüten'." 

Das Landgericht Münster in Westfalen hatte ihn nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) verurteilt. Diese Norm bedrohte mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, wer "mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet".  

Das Landgericht hatte es bei der Begründung belassen, dass das zitierte Verhalten des Angeklagten "gegen das Schamgefühl eines gesund denkenden Menschen" verstoßen habe. 

Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache nach Münster zurück, weil damit eine zwingend notwendige Bewertung des Vorgangs noch nicht geleistet war. Denn zu unterscheiden sei zwischen der bloßen Schamlosigkeit und der Verletzung des Sittlichkeitsgefühls. Eine nackte Frauenbrust, vom Bildhauer gemeißelt oder vom Medizinprofessor den Studierenden präsentiert, könne die Betrachter beschämen. Solange den Betrachtern dabei aber nicht die unsittliche, also sexuelle Seite aufgedrängt werde, sei der Maßstab für das Verbrechen der Unzucht mit Kindern nicht erfüllt (BGH, Urt. v. 17.09.1953, Az. 4 StR 270/53). 

Das Magazin unter dem Titel "Paprika", mit dem sich der Angeklagte im Freibad betätigt hatte, stammte übrigens aus dem Umfeld der Zeitschrift "Stern" aus der NS-Zeit, machte aber, anders als der Nachkriegs-"Stern" keine weitere Justizgeschichte wegen entblößter Frauenkörper

Sittliche Unreife im historischen Badebetrieb 

Aber gut, das katholische Westfalen war eine andere Welt. Der Bischof von Münster, der tapfere Clemens August Graf von Galen (1878–1946) hatte beispielsweise in seinen berühmten Predigten aus dem Jahr 1941 die NS-Regierung nicht nur wegen der Morde an Psychiatriepatienten angegriffen, sondern auch wegen der Sexualisierung der Jugend im NS-Staat. Gewiss war noch das "Pöt, Pöt"-Urteil des Landgerichts Münster, gut zehn Jahre später, von dieser besonderen sittlichen Reizbarkeit getragen. 

Das Spektrum gerichtlicher Entscheidungen zum sittlichen Zustand des deutschen Freibads reicht jedoch von vergleichbar harmlosen bis hin zu erschreckenden Fallgestaltungen. 

In einer frühen Entscheidung zu §§ 903, 906, 1004 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) grenzte beispielsweise das Reichsgericht die nur optischen und die auch physischen Beeinträchtigungen ab, die von einem Freibadbetrieb ausgingen. Die Klägerin hatte zwar den Erfolg, dass ihr gegen den Lärm eines benachbarten kommunalen Badebetriebs Schutzvorkehrungen zustünden. Dass sich "die Badebesucher in oft schamloser, jedem Anstand und jeder guten Sitten hohnsprechenden Weise" verhielten und "oft ohne Badehose" umherliefen, wurde vom Reichsgericht aber nicht als nachbarschaftsrechtlich relevanter Vorgang gesehen (RG, Urt. v. 08.04.1911, Az. V 328/10). 

In der Rechtsprechung des BGH aus den 1950er Jahren bleibt es dann nicht bei der optischen Fernwirkung der von der Badebekleidung befreiten Geschlechtsorgane. Auch wenn nach der Hamann'schen Regel die veröffentlichten Urteile nicht dazu taugen, ein belastbares Sittengemälde der deutschen Gesellschaft zu zeichnen, beeindruckt die Zahl der entsprechenden Entscheidungen. 

Das Landgericht Osnabrück verurteilte z. B. am 12. Januar 1950 einen Kfz-Mechaniker, der im Sommer zuvor, "angetan mit einer gestärkten, weiten Badehose", wiederholt Mädchen unter 14 Jahren seinen erigierten Penis gezeigt, sie zwei Mal selbst an ihren Genitalien berührt hatte, nach §§ 183, 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil (BGH, Urt. v. 08.05.1951, Az. 2 StR 162/51). 

Während im Fall aus Osnabrück die Qualität der Badehose – gestärkter Stoff – Zweifel daran nährte, ob der Angeklagte überhaupt zum Baden vor Ort war, dürfte in einer Sache aus Köln die Verschmutzung des Rheins dazu Anlass gegeben haben: Von der Wasserschutzpolizei aufgegriffen worden war ein Mann, der hier, der Badehose entledigt, in eine Decke gehüllt, mit der Selbstbefriedigung begonnen hatte. Das Urteil des Landgerichts Köln vom 13. Mai 1952, im Jahr nach der Tat, hob der BGH auf und verwies die Sache zurück, weil die Wasserschutzpolizisten den Vorgang nur mit technischen Hilfsmitteln – dem Fernglas – hatten beobachten können und unklar war, ob der Angeklagte überhaupt von Dritten gesehen werden wollte (BGH, Urt. v. 12.06.1953, Az. 2 StR 510/52). 

Eindeutig dem engeren Badebetrieb – im ostfriesischen Leer – zuzurechnen ist das Urteil des Landgerichts Aurich vom 20. November 1952. Verurteilt wurde ein Mann wegen der unzüchtigen Berührung eines Mädchens unter 14 Jahren am 31. Juli 1952 nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Der Bundesgerichtshof monierte daran nur, dass eine Strafaussetzung zur Bewährung hätte geprüft werden müssen (BGH, Urt. v. 06.11.1953, Az. 2 StR 118/53). 

Konfliktpotenzial im Badebetrieb und die Arbeit der Justiz 

Halten wir fest: Die Lebenswelt des Freibades unterscheidet sich vom sonstigen Betrieb menschlicher Verhältnisse darin, dass sich dort der Mensch näher an seiner Natur bewegt und sozial als Mängelwesen preisgibt, zugleich aber auch oft seine physische Attraktivität inszenieren will. 

Wie sehr dabei auf ausgehandelte und tradierte Regeln zurückgegriffen wird, die eine Ausnahme von der übrigen Welt bilden, lässt sich an obskuren Details erkennen, die den Ortsfremden nur ethnologisch staunen lassen. Beispielsweise findet sich in lokalen Presseorganen – von Hamburg bis München und Wien – alljährlich ein etwas manisch wirkendes journalistisches Interesse an den Preisen für Pommes Frites, die zu kaufen offenbar ein wesentliches Anliegen der Schwimmbad-Besucher ist. 

Wo die Leute Regeln selbst aushandeln, besteht gemeinhin ein hohes Konfliktpotenzial. Fehlt es an Übung, zumal in diesem saisonalen Betrieb, braucht es Zeit, bis das "Mängelwesen" seine sozialen Techniken zur neuen Institution ausgebaut hat. In den 1950er Jahren kamen etwa traditionell wasserscheue Katholiken, fremde Flüchtlinge und Vertriebene, Kriegstraumatisierte und andere psychisch Gestörte am Wasser unter freiem Himmel zusammen. Die Justiz bearbeitete, was die Leute selbst nicht zu regeln wussten. 

Zwischen vorgeworfener Tat und erstem Urteil lagen in den 1950er Jahren übrigens Zeiträume von gut drei Monaten (Emden, 1952) bis mindestens acht Monaten (Köln 1951/52).  

Zügiger arbeitete die Justiz nicht, obwohl die damaligen Richter sogar noch aus schlechter Erfahrung wussten, wie schnell sie urteilen konnten, wenn sie mussten

Zitiervorschlag

Tatort Freibad: . In: Legal Tribune Online, 23.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52314 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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