Zivilrecht entdeckt die Sozialpsychologie
Bemerkenswerter sind daher vielleicht weniger die Frage, ob der freie Wille seinen guten Ruf überhaupt verdient als Fragen danach, wie es dazu kommt, dass das, was jemand zu wollen glaubt, nicht mit dem übereinstimmt, was er beispielsweise von seinen Vertragspartnern bekommt.
In einer noch frischen Ausgabe der Juristenzeitung (JZ 2013, S. 340-345) behandeln die emeritierten Professoren Herbert Wiedemann und Rolf Wank einige Erkenntnisse der Wirtschafts- und Sozialpsychologie, die sich auch als juristische Willensbildungsstörungen diskutieren lassen ("Begrenzte Rationalität – gestörte Willensbildung im Privatrecht").
Die Wirtschaftswissenschaften gingen bekanntlich und gehen in manchen Modellannahmen bis heute von einem schlichten Welt- und Menschenbild aus: Der Mensch am Markt gilt als ein rational-egoistischer Nutzenmaximierer und hat alles Wissen, das er für seine Entscheidungen benötigt. Gegen den zwar begrenzten, aber möglichen Erkenntnistransfer, z.B. zur ökonomischen Rationalität von Haftungsregelungen, haben sich Juristen oft gewehrt und etwa ein diffuses "Menschenbild des Grundgesetzes" dagegengesetzt. Einen Beleg für die Beinah-Totgeburt der "Ökonomischen Analyse des Rechts" in Deutschland vor bald 30 Jahren gibt die Kontroverse zwischen Karl-Heinz Fezer, Claus Ott und Hans-Bernd-Schäfer (samt Replik und Duplik in: JZ 1986, 817-824; 1988, 213-223 und 223-228).
Beim eindimensionalen Modellmenschen eines "rational-egoistischen Nutzenmaximierers" sind die Wirtschaftswissenschaften indes nicht stehengeblieben. Wirtschaftspsychologen wollen beispielsweise herausgefunden haben, dass Menschen überall und unabhängig von der Gesellschaft, in der sie leben, Schwierigkeiten damit haben, exponentielle Wachstumsprozesse zu erkennen: Bricht etwa in einem Zimmer ein Feuer aus, fliehen sie oft zu spät, selbst wenn sie die Flammen sehen. Sie verschätzen sich bei der Geschwindigkeit, mit der sich das Feuer ausbreitet. Menschen sind bei solchen Wachstumsprozessen systematisch unvernünftig. Für andere überraschend schnelle Wachstumsprozesse gilt nichts anderes: Der Zinseszins gehört etwa hierher.
"In der Jurisprudenz gibt es eine Reihe von Modellannahmen", stellen Wiedemann/Wank nun fest. "Wie den ehrbaren Kaufmann oder den ordentlichen Geschäftsführer; sie werden aber mit ganz anderer Funktion eingesetzt, nämlich als normativer Verhaltensmaßstab und nicht als empirischer Befund."
Als Beispiel für die juristische Auseinandersetzung für systematisch fehlerhafte Risikowahrnehmung geben Wiedemann und Wank das Problem der Nachschusspflicht im Gesellschaftsrecht an: Ein Gesellschafter soll sich, gestützt auf § 709 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und § 119 Handelsgesetzbuch nicht vorab zu Mehrbelastungen zugunsten der Gesellschaft verpflichten können.
Willensbildungsstörungen in der Juristerei
Merkwürdig, dass Wiedemann/Wank eine hier naheliegende Weisheit des Gesetzgebers zur Eindämmung von Willensbildungsstörungen, hier im Teilgebiet der Risikowahrnehmungsprobleme, nicht erwähnen, § 289 BGB: "Von Zinsen sind Verzugszinsen nicht zu entrichten. Das Recht des Gläubigers auf Ersatz des durch den Verzug entstehenden Schadens bleibt unberührt."
Das Zinseszinsverbot ist eine Antwort des Gesetzes auf die gestörte Realitätssicht des Menschen in seiner durchschnittlichen biologisch-psychischen Ausstattung: Er wird vor seiner Fehleinschätzung eines exponentiellen Wachstumsverlaufs geschützt.
Leider genügt Juristinnen und Juristen oft der Blick ins Gesetz. Würde man nach Art der Wirtschaftswissenschaftler auf den "inneren Zweck" schauen, der sich mit Wirtschafts- und Sozialpsychologie erschließen lässt, ließe sich beispielsweise viel Sorge über staatlichen Paternalismus beenden. Wiedemann/Wank sprechen diese Sorge an, dass die nun aufkommenden verhaltensökonomischen Erkenntnisse über Willensbildungsstörungen den Gesetzgeber zu immer neuen, paternalistischen Eingriffen in die Freiheit der "unvernünft" handelnden Marktteilnehmer animieren könnten.
Dieser Blick auf verhaltensökonomische Gesetzmäßigkeiten ist vielleicht etwas zu pessimistisch. Man könnte ja durchaus auch bestehendes Recht freundlicher betrachten: Wem die innere, "ökonomische" Verwandtschaft zwischen dem alten Zinseszinsverbot und der neueren Pflicht, Brandschutzmelder zu installieren, geläufig ist, wird vielleicht nicht so schnell vom übervorsorglichen Staat sprechen, der seine Bürger für dumm erklärt.
Weites Feld unbequemer Denksportaufgaben
Mit Problemen, exponentielles Wachstum in seiner Umwelt zu erkennen, ist der Mensch nicht allein gestraft. Schon beim Versuch, die populäre Literatur zum Thema Willensbildungsstörungen auszuwerten, finden sich an die 100 Effekte und "Gesetze", die Einfluss auf die richtige Wahrnehmung der Realität und die daraus folgenden Entscheidungen nehmen oder im Verdacht stehen dies zu tun.
Als Verfügungsmasse für populärwissenschaftliche Bücher sind diese Probleme und Paradoxien eigentlich viel zu schade. Würden sie nicht gut dazu taugen, den oft beklagten Verlust an "innerjuristischer Interdisziplinarität" wieder wettzumachen?
Man nehme beispielsweise das "Abilene-Paradox", das eine Situation beschreibt, in der sich eine Gruppe zu einer Handlung entschließt, die der persönlichen Neigung jedes einzelnen Gruppenmitglieds widerspricht. Sollte sich das in europarechtlichen Falllagen, beispielsweise aktuellen währungspolitischen Entscheidungen, nicht ebenso wiederfinden lassen wie in den strafrechtlichen Situationen von Täterschaft und Teilnahme?
Oder scheinbar profane "Gesetze" wie der "Rezenzeffekt": Dass jüngere Ereignisse besser erinnert werden als ältere, scheint eine profane Einsicht zu sein. Aber sollte ein forensisch arbeitender Jurist aufs Berufsleben losgelassen werden ohne sich in Studium und Referendariat systematisch damit befasst zu haben, welche Verzerrungen der Effekt in Zeugenaussagen verursacht?
Sind Sie interessiert? Mit einem Fingerschnipp finden Sie weiterführende Hinweise, ob Sie das wollen oder nicht.
Martin Rath, Juristen und die Neurowissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8622 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag