Juristen und die Neurowissenschaften: Überall Willensbildungsgestörte

von Martin Rath

28.04.2013

"Des Menschen Willen ist sein Himmelreich?" Neurobiologen beunruhigen mit der Botschaft, dass es mit dem freien Willen nicht weit her sein könnte. Juristen verteidigen das Himmelreich, ist der Wille doch Voraussetzung von Schuld und Haftung. Bis zur Klärung der Angelegenheit hilft vielleicht eine Übung in Willensbildungsstörungen. Ein Versuch von Martin Rath.

In der oft etwas boshaften Kleinzeitschrift "myops. Berichte aus der Welt des Rechts" fasste Ernst Gottfried Mahrenholz jüngst einige Probleme der Juristen mit der neueren Neurobiologie derart zusammen, dass man kaum glauben mochte, dass der Autor früher als Richter am Bundesverfassungsgericht an erschöpfend langen Urteilstexten mitwirken musste: "Die Hirnforschung stellt Schuld im strafrechtlichen Sinn in Frage", schreibt Mahrenholz, "weil sie Erkenntnisse hat, die ausschließen, dass ein Täter 'im Augenblick der Tat' hätte auch anders handeln können. Der Entscheidungsprozess sei im Nervensystem bereits abgeschlossen, bevor der Täter handelte. Handelte er aber ohne Freiheit des Willens, sei sein Tun nicht schuldhaft", (Heft 17 [2013], S. 5-11).

Wenn dem so sein sollte, stünde es um die traditionelle Begründung eines staatlichen Strafanspruchs gegen Menschen, die Normen verletzt haben, möglicherweise nicht gut. Entsprechend umstritten ist es, welche Schlüsse aus den neurobiologischen Ansichten zur Willensfreiheit gezogen werden. Mahrenholz benennt in seiner kleinen "myops"-Skizze zwar nicht das zu Tode zitierte Experiment des US-Psychologen Benjamin Libet (1916-2007), womöglich stand es ihm aber vor Augen – in seiner journalistisch-volkstümlichen Kurzform: Der Handlungsimpuls, der Menschen handeln lässt, bildet sich, bevor das Gehirn den klaren Gedanken fasst, diese Handlung zu wollen. Im Libet-Test bestand die Handlung aus einem Fingerschnippen.

Gehirnscan zum Tatzeitpunkt

Mahrenholz weist darauf hin, dass Straftaten zumeist komplexere Handlungsverläufe sind, die einen entsprechend nachhaltigeren Prozess der (Willens-) Entscheidung zum strafrechtlich zurechenbaren Fehlverhalten erforderten: "Der Bankeinbruch bedarf, soll er gelingen, langer Vorlaufzeit, an deren Beginn oder jedenfalls in einer frühen Phase der Entschluss zur Tat gefallen ist."

Das ist wohl meist richtig. Mit einem Fingerschnippen lässt sich kein Bankeinbruch organisieren. Und nach den Skandalen der vergangenen Jahre gilt dies hoffentlich auch für die bankinterne Kapitalvernichtung durch windige Geschäfte.

Doch mit der leichten Verschiebung der Willensfreiheit weg vom tatkräftigen Einzelakt hin zum komplexeren Handlungsverlauf liegt vielleicht ein Stück Aburteilung mitunter nur zufällig biografischer Abschnitte. In Zeiten allseitigen Gehirnscans könnte dann ein Justizkalauer lauten: Der Angeklagte zum Richter: Wäre ein Gehirnscan zum Tatzeitpunkt möglich gewesen, hätte er sicher belegt, dass die eigentliche Tathandlung ohne Willen geschah. Der Richter zum Angeklagten: Machen Sie sich nichts daraus, dass ist mir schon beim Unterschreiben von Urteilen passiert.

Weniger kalauernd gefragt: Wenn es mit der Willensfreiheit der Beschuldigten und Angeklagten (volkstümlich: "der Täter") nicht weit her ist, gilt das Gleiche nicht auch für die übrigen Justizbeteiligten? Gelten die Willensbildungsstörungen beziehungsweise das Problem des freien Willens nicht für alle Menschen?

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristen und die Neurowissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 28.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8622 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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