Täuschen, Tricksen, Tarnen – das ist das Handwerk der Geheimdienste. Dafür eignen sich Juristen ganz gut, wie schon Bismarcks Geheimdienstchef Wilhelm Stieber bewies. Bei der Polizei gescheitert, bewährte er sich als Kommunistenjäger und stieg unter Bismarck zum Direktor der geheimen Feldpolizei auf. André Niedostadek über den Mann, der eigentlich Pastor hätte werden sollen.
Die Sensation scheint perfekt als Ende der 1970er Jahre die bis dato unbekannten Lebenserinnerungen Wilhelm Stiebers erscheinen. Angeblich, so der Verlag, seien die Originalaufzeichnungen zu "Spion des Kanzlers. Die Enthüllungen von Bismarcks Geheimdienstchef" 1945 verschwunden. Es gebe aber eine Abschrift aus dem Nachlass seines Sohnes.
Die Fachwelt ist von Anfang an skeptisch und zweifelt an der Authentizität. In einem Beitrag in dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel warnt der Historiker Hans-Joachim Schoeps schon kurz nach Erscheinen vor dem "Machwerk", bei dem es sich keineswegs um eine historische Quelle ersten Ranges handele, sondern vielmehr um eine "Riesenschweinerei", an der kein Wort stimme. Doch nicht nur die Memoiren sind rätselhaft und undurchsichtig, sondern auch Stieber selbst.
Der Kriminalist als Fälscher
Wer sich auf Stieber einlässt, beginnt alles in Frage zu stellen. Was ist Fakt, was Fiktion? Ein paar Eckdaten scheinen gewiss: Geboren wird Wilhelm Johann Carl Eduard Stieber 1818 als Sohn eines Beamten in Merseburg. Entgegen dem väterlichen Wunsch, Theologie zu studieren und Pastor zu werden, entscheidet er sich für ein Jurastudium in Berlin. Täuschen, Tricksen und Tarnen soll ihm dabei schon früh zur zweiten Haut geworden sein. So heißt es, Stieber habe im Studierzimmer sogar falsche Manuskripte seiner angeblichen Predigten ausgelegt, um die Familie zu täuschen. Als der Schwindel auffliegt, tobt der Vater.
Nach dem Studium absolviert Stieber sein Referendariat am Berliner Kriminalgericht, geht dann zur Polizei, wird dort aber bereits wenige Jahre später wieder vor die Tür gesetzt. Zweifelhafte Ermittlungsmethoden werden ihm zum Verhängnis. Er hält sich zeitweilig als Anwalt und Zeitungskorrespondent über Wasser. Dabei kommt ihm zugute, dass er zumindest anfangs noch das Polizeipräsidium betreten und Einsicht in Akten nehmen darf. Später erhält er dort Hausverbot.
Seine Stunde schlägt erst nach dem Ende der Revolution von 1848/1849. Ihm gelingt es, wieder in den Staatsdienst zurückzukehren. Jetzt profiliert er sich in der Reaktionsära durch Maßnahmen gegen Oppositionelle und zeigt sich vor allem als Kommunistenjäger. Zusammen mit dem Polizeidirektor des Königreichs Hannover, Karl Georg Ludwig Wermuth, veröffentlicht er das Buch "Die Communisten-Verschwörungen des neunzehnten Jahrhunderts" mit über 700 Steckbriefen.
Als im Herbst 1852 der sogenannte Kölner Kommunistenprozess beginnt, spielt Polizeirat Stieber auch hier eine maßgebliche Rolle. Das Verfahren richtet sich gegen Mitglieder des Bunds der Kommunisten und gilt als politisch initiiert, um der Opposition mit juristischen Mitteln die Zähne zu ziehen. Für einige der elf Angeklagten endet der Prozess mit mehrjährigen Haftstrafen. Das zusammengetragene Beweismaterial ist von Stieber und seinen Polizeiagenten gefälscht. Auch Dokumente mit der Unterschrift von Karl Marx sollen darunter sein.
Die Maßnahmen werfen dabei ein Licht auf die damalige Polizeiarbeit, die nicht zuletzt als politische Polizei aktiv ist. Für Friedrich Engels ist Stieber nicht mehr als einer der "elendesten Polizeilumpen unseres Jahrhunderts".
Schuft oder Superdetektiv
Während die einen ihn als Schuft sehen, gilt er anderen als begabter Kriminalist und Vorreiter der Kriminalistik. Sein "Practisches Lehrbuch der Criminal-Polizei" von 1860 ist eines der ersten Lehrbücher zur kriminalpolizeilichen Arbeit.
Man bescheinigt Stieber eine lebendige Auffassungsgabe. In einer Beurteilung heißt es, er sei ein Mann, der "mit richtigem practischem Blick die Charactere der Menschen und die Verhältnisse des Lebens beurtheilt und in einem hohen Grade die Gabe besitzt, in die Geheimnisse verbrecherischen Treibens einzudringen". Kombiniert mit Fleiß, Eifer und Gründlichkeit qualifiziert ihn das für höhere Aufgaben. Er wird befördert und beginnt, den trägen Polizeiapparat umzubauen.
Nach dem Aufstieg erneut ein Fall: 1860 wird er vom Dienst suspendiert. Man wirft ihm vor, Teil eines polizeilichen Willkürregimes zu sein und über die Strenge geschlagen zu haben: Konkret geht es um den Vorwurf der Freiheitsentziehung und Nötigung in mehreren hundert Fällen. Juristisch wird er dafür zwar nicht belangt. Sein Ruf ist aber weiter ramponiert. Stieber ist jedoch gut vernetzt und seine exzellenten Kenntnisse helfen ihm auch in dieser Situation. Er arbeitet nun für den Geheimdienst des russischen Zaren und wird auf revolutionäre Exilrussen in Preußen angesetzt.
Comeback unter Bismarck
Sein Comeback hat er dann im Jahr 1866 nach dem gescheiterten Attentat auf den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Der ist gerade auf dem Heimweg nach einer Unterredung mit König Wilhelm I. als auf ihn geschossen, er aber nur leicht verwundet wird. Der Schütze, Ferdinand Cohen-Blind, wollte mit dem Attentat den drohenden Bruderkrieg zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland verhindern.
Bismarck holt Stieber nun wieder aus der Versenkung und macht ihn zum Direktor der geheimen Feldpolizei, wo er sich im Deutschen Krieg von 1866 bewähren kann. Stieber ist nicht nur für den Schutz und die Sicherheit des Königs und Bismarcks verantwortlich. Mit weitgehenden nachrichtendienstlichen Befugnissen ausgestattet obliegt ihm insbesondere die Spionageabwehr. Ob überhaupt und wie eng er mit Bismarck direkt zusammenarbeitet, bleibt spekulativ. Augenscheinlich macht er seine Sache aber gut und avanciert später zum Leiter des neu eingerichteten Zentral-Nachrichtenbüros. Als Vorläufer eines modernen Geheimdienstes dient es zur "Unterdrückung hochverräterischer Umtriebe" von außen und von innen. Nachrichtendienstliche und geheimpolizeiliche Aufgaben gehen dabei Hand in Hand.
Und Anlässe gibt es genug. So hat etwa der König von Hannover, Georg V., nach dem Krieg sein Königsreich verloren und ist nach Paris geflohen. Von dort wettert er gegen die neue Situation und versucht, eine Welfenlegion aufzustellen, um bei einem etwaigen Krieg sein verlorenes Königreich zurückzugewinnen. Tatsächlich kommt es zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Stieber baut sein Spionagenetz weiter aus. Die Motivation der rekrutierten Spitzel ist dabei nicht entscheidend: Ob mit Geld geködert oder erpresst, der Zweck heiligt alle Mittel.
Das abrupte Aus kommt 1873 als das Nachrichtenbüro geschlossen und Stieber in den Ruhestand versetzt wird. Er stirbt am 19. Januar 1882.
Was bleibt? Eine Person, die wohl nur aus der Zeit heraus zu verstehen ist. Was Wilhelm Stieber tatsächlich angetrieben hat oder wie er wirklich gewesen ist, all das wird sich vermutlich nie rekonstruieren lassen. Und seine angeblichen Memoiren? Auch sie helfen nicht. Denn insoweit ist man sich immerhin weitgehend einig, einer Fälschung aufzusitzen. Nicht allein weil sie Stieber verklärt, sondern obendrein mit einer Menge Ungereimtheiten aufwartet. Wenn schon falsch, so könnte man sagen, dann aber wenigstens richtig falsch.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
André Niedostadek, Bismarcks Meisterspion: . In: Legal Tribune Online, 08.03.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11263 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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