Wertungsprobleme: Ein heiliges Herz auf Deutschlandtour

von Martin Rath

20.01.2013

Ein katholisches Krankenhaus verweigerte einer wohl sexuell missbrauchten jungen Frau nach einem Tanzabend die Untersuchung, weil das Personal wegen der "Pille danach" moralische Bedenken hatte. An dieser Meldung interessiert Martin Rath am meisten der Tanz, den ein Pfarrer verbieten wollte, dessen Organe nun auf Reisen sind, statt juristisch korrekt bestattet zu werden. Wundersame Nebenspuren.

Vor bald sieben Jahren lief im US-amerikanischen Fernsehen eine Folge der meist witzigen, oft auch aberwitzigen Serie "Boston Legal", in der das Thema aufgegriffen wurde: In der fiktiven Geschichte wurde die 18-jährige Amelia Warner nach einer Vergewaltigung in ein katholisches Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte verweigerten ihr die "Pille danach" aus ethischen Gründen, Amelia wird schwanger und verklagt die Klinik mithilfe der bizarren Anwältinnen und Anwälte von "Crane Poole & Schmidt" auf Schadensersatz.

Dieser Tage ging zunächst durch die lokale Presse, dann durch die überörtlichen Medien eine Meldung, die einen ähnlichen Fall thematisierte: Eine junge Frau war nach einer Nacht auf der linksrheinischen "Party-Meile" der Stadt Köln in einer Seitenstraße im Rechsrheinischen wachgeworden. Der hinzugezogenen Notärztin kam der Verdacht, die Frau könnte "K.O."-Tropfen und einem sexuellen Übergriff zum Opfer gefallen sein. Obwohl ihr die "Pille danach" bereits verschrieben worden war, verweigerte nun ein Krankenhaus in Stiftungsträgerschaft der "Cellitinnen zur heiligen Maria" sogar eine rein gynäkologische Untersuchung.

Heiliger Kämpfer gegen die Sünde des Tanzens

Die juristischen Aspekte des Falls werden sicher bald schon Gegenstand von akademischen Übungen sein. Von Fragen des kirchlichen Arbeitsrechts, das einer echten Gewissensentscheidung des ärztlichen Personals hier kaum Raum zu geben schien, über strafrechtliche Fragen bis hin zur politisch beziehungsweise staatskirchenrechtlich virulenten Frage, ob der tendenziell säkulare Staat von konfessionellen Unternehmen der Krankenbehandlung oder des Unterrichtswesens bekommt, was er mit seinen Subventionen bezahlt, ist hier alles vorhanden, womit man Dritt- bis Achtsemester rechtswissenschaftlicher Fakultäten quälen kann.

Uns hat hier hingegen ein Aspekt neugierig gemacht, auf den man wirklich erst einmal kommen muss: Die junge Frau des Kölner Skandal-Falls war offensichtlich zum Tanzen unterwegs gewesen. Dieser Umstand führt auf ein ganz merkwürdiges Problem zwischen Recht und Religion, das als ein wirklich gutes Geheimnis zu greifen war – wirklich gut, weil der Anlass ebenso publik wurde wie er ignoriert blieb.

Im jüngst veröffentlichten Tagebuch von Peter Sloterdijk findet sich zum 19. Juni 2009 der Eintrag, dass Papst Benedikt XVI. soeben "das balsamierte Herz des Pfarrers, der seinen Schäfchen die Kommunion verweigerte, wenn sie tanzen gingen, nach Rom bringen [ließ], um den Schatz an magischen Pfändern des Antimodernismus zu vergrößern".

Welcher Priester seinen Pfarrkindern das Tanzen verbot, verrät der Karlsruher Philosoph zwar nicht, ein wenig Recherche im katholischen Heiligenkalender gibt aber rasch Aufschluss: Es handelt sich um Jean-Marie Vianney, der als der "Heilige Pfarrer von Ars" bekannt wurde, geboren 1786, am Vorabend der Revolution in Frankreich, im Örtchen Dardilly bei Lyon. Gestorben 1859 in Ars-sur-Formans. In seiner Pfarrei mühte sich der Mann offenbar erfolgreich, die in Revolutionszeiten abspenstig gewordenen Dorfbewohner wieder ins Kirchenleben zu integrieren, als populärer Beichtvater kam er der Legende nach kaum aus dem Beichtstuhl heraus – und er kämpfte mit allen Mitteln gegen Trunk und Tanz, letzteres mit durchaus wahnhaften Zügen: "Der Tanz ist jener Strick, mit dem der Teufel die meisten Seelen in die Hölle zieht. Wer zum Tanzen geht, lässt vielfach seinen Schutzengel an der Türe zurück und der Teufel ersetzt ihn, so dass es im Tanzsaal alsbald ebenso viel Teufel wie Tänzer und Tänzerinnen gibt".

Drei Jahre nach seinem Tod wurde für Vianney ein Seligsprechungsverfahren eingeleitet, 1872 erklärte ihn der Papst für verehrungswürdig und am 17. Juni 1904 geschah – ein Jahr vor der Seligsprechung – etwas, das heute zu juristischen Werturteilen einlädt: Ein Jahr vor der Seligsprechung wurde der Leichnam Vianneys exhumiert, man stellte "die körperliche Unverwestheit des Heiligen" fest. – Die Heiligsprechung erfolgte 1925 und 1929 wurde Jean-Marie Vianney zum "Patron aller Pfarrer der Welt" ernannt, also zu einer Art Schutzgeist für katholische Priester.

Das bliebe bloß eine teils bizarre Geschichte, selbst wenn sie im Kampf zwischen römischer Kirche und französischem Staat ihre Rolle spielte – kaum zufällig fand die Seligsprechung des lustfeindlichen Landpfarrers aus dem Lyonnais in eben jenem Jahr statt, in dem die "Loi relative à la séparation des Eglises et de l’Etat" verabschiedet wurde, die bis heute nachwirkende Trennung von Kirche und Staat in Frankreich mit ihrem weitgehenden Ausschluss der Konfessionen aus dem bekenntnisneutralen öffentlichen Raum.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Wertungsprobleme: . In: Legal Tribune Online, 20.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8001 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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