Historische Romane, in denen sich Londoner Lausbuben im Nahen Osten zum Medicus ausbilden lassen oder ehrbare Kaufmannsfrauen als Hexen verbrannt werden, gibt es zuhauf. Doch das ist nichts gegen einen echten Fall von Ketzerverfolgung.
In der guten alten Zeit fand die Rechtspflege bekanntlich noch in der Öffentlichkeit statt. In dem Fall, von dem hier berichtet wird, bestand entsprechend das Risiko, am Ende vor einigen hundert Schaulustigen in Heidelberg als Hochverräter mit dem Schwert enthauptet zu werden, falls nicht der Abfall vom wahren Glauben nach einer Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen verlangte. So war es manchem neumodischen Freigeist bereits widerfahren.
Anlass bot die Reformation. In dem großen weltanschaulichen Durcheinander, das Martin Luther (1483–1546) seit 1517 durch seine theologische Opposition gegen die Lehren der römischen Kirche angezettelt hatte, suchten die deutschen und auch viele europäische Fürsten – soweit es ihnen aus theologischen Gründen gefiel – nach einer geordneten Lehre, die sie ihren Untertanen gesetzlich vorschreiben konnten.
Zu den Landeskindern, die sich derweil weit über das entsprechende Vorstellungsvermögen ihrer Fürsten hinaus in strafbarer Weise eigene Gedanken machten, zählte im pfälzischen Heidelberg ein gewisser Adam Neuser (ca. 1530–1576).
Gemeinsames Ausgrenzen: evangelisch und römisch-katholisch
Für die Kurpfalz hatte Friedrich III. (1515–1576) die Einführung der Lehre des in Genf tätigen französischen Theologen Johannes Calvin (1509–1564) ins Auge gefasst. Der Fürst begann in den 1560er Jahren damit, die Pastoren und Prediger seines kleinen Reichs mit einer entsprechenden sogenannten Kirchenzucht zu konfrontieren.
Dies war bereits ein verfassungspolitisch riskantes Manöver, weil die Lehre Calvins grundsätzlich nicht im Einklang mit dem Recht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation stand.
Nach §§ 15–17 des Augsburger Reichsabschieds von 1555 – einem Reichsgesetz – war der allgemeine Landfriede nur für die Reichsstände – also die Fürstentümer, Reichsstädte und reichsunmittelbaren Abteien – katholischer Konfession vorgesehen und auch die Reichsstände, die sich zur Lehre Luthers bekannten, sollten nicht von der Reichsgewalt bedroht sein.
Ob nichtkatholische Christen außerhalb der Lutherischen Lehre unter dem Schutz des Reichsrechts standen, stellte § 17 Reichsabschied in Frage: "Doch sollen alle andere, so obgemelten beeden Religionen nicht anhängig, in diesem Frieden nicht gemeynt, sondern gäntzlich ausgeschlossen seyn."
Noch einen Schritt weiter als selbst die reichsrechtlich anrüchigen Kalvinisten gingen philosophisch oder theologisch ausgebildete Menschen wie Adam Neuser. Er war, bis das Kirchenzucht-Programm seines Fürsten auf die Tagesordnung der Pfalz gesetzt worden war, als Prediger an der Heidelberger Peterskirche tätig – und hatte andere Ideen als sein Landesherr, nämlich nicht etwa altgläubig katholische, sondern aus der Auslegung der Bibel gewonnene radikale Überzeugungen.
Trotz aller für Nichttheologen höchst esoterisch wirkenden Differenzen zwischen Katholiken, Lutheranern und (kalvinistisch) Reformierten, etwa in der Frage, wofür Brot und Wein im christlichen Abendmahl stehen – von einer mehr symbolischen Bedeutung bis zum Glauben an eine tatsächliche Präsenz von Fleisch und Blut Christi kamen viele Vorstellungen in Betracht – waren sich diese mehr oder weniger von Staats wegen geschützten Konfessionen beispielsweise darin einig, dass die christliche Gottheit dreifaltig sei – hinter diese Lehre des Athanasius (ca. 300–373) fielen weder Calvin noch Zwingli noch Luther zurück.
Prediger Neuser war anderer Auffassung: Für eine Aufteilung Gottes in Vater, Sohn und heiligen Geist gebe es in der Bibel keine Begründung. Das war eine Idee, die seit der Antike völlig unvertretbar gewesen war. Gerade erst war der spanisch-französische Mediziner Michael Servetus (um 1510–1553) für diese ketzerische Überzeugung von der kalvinistischen Obrigkeit der Stadt Genf auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden, und zwar in ökumenischer Verbundenheit: Er war auf der Flucht vor der katholischen Obrigkeit Frankreichs ins reichsangehörige Genf geraten.
Flucht aus Deutschland - aber wohin?
Für Menschen mit einem strikt monotheistischen Gottesbild, die sogenannten Unitarier, die im Gegensatz zu den Trinitariern eine Dreifaltigkeit Gottes abstritten, gab es innerhalb der Reichsgrenzen keinen rechtlichen Schutz. Dieses Schicksal teilten sie mit anderen Abweichlern, beispielsweise den Baptisten, die sich etwa gegen das Prinzip der Kindertaufe wandten.
Adam Neuser wurde zu einem besonderen Fall der kurpfälzischen Strafrechtspflege. Der aus dem Dienst geschiedene Prediger aus Heidelberg machte sich nicht nur auf, aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zu fliehen. Er prüfte auch Möglichkeiten einer Auswanderung unitarischer Christen nach Siebenbürgen. Dieser Teil des heutigen Rumäniens stand von Zeit zu Zeit unter der Kontrolle des Osmanischen Reichs und schien als Siedlungsgebiet für christliche Dissidenten mindestens ebenso gut in Betracht zu kommen wie rund 100 Jahre später die britischen Kolonien Nordamerikas.
Die kurpfälzischen Behörden entdeckten derweil bei einer Hausdurchsuchung einen Brief, den Neuser in völliger Überschätzung seines Status an den osmanischen Sultan Selim II. (1524–1574) höchstselbst geschrieben, wenngleich nicht auf den Postweg gebracht hatte. Sein Wortlaut beginnt, soweit seine Echtheit nicht in Zweifel stehen sollte, wie folgt:
"Ich, Adam Neuser, Heidelbergischer Prediger und zum Doktor promoviert in der Universität Heidelberg beim pfälzischen Fürsten, der den zweiten Rang im Reich nach dem Kaiser hat, habe die prophetischen und apostolischen Schriften gelesen, mit den besten Interpretationen aller alten Kirchenväter und modernen Ausleger. Durch Beiwohnung des allmächtigen Gottes habe ich gesehen, dass alle Christen in ihrer Idolatrie [Götzenanbetung, Anm. d. Red.] verfangen sind, dass sie selbst nicht richtig über die Grundsätze ihrer Religion urteilen, ja der Religion überhaupt."
Istanbul/Konstantinopel und das ultimative Aufenthaltsrecht
In einer Verkettung glücklicher Zufälle gelang es Neuser im Jahr 1571 nach einer glimpflich verlaufenen Inhaftierung zunächst, über die ungarische Militärgrenze nach Siebenbürgen zu entkommen. 1572 geriet er dann beim Versuch, im Osmanischen Reich eine Druckerpresse zu erwerben, dort in Haft.
Innerhalb des Heiligen Römischen Reichs scheint zwischenzeitlich eine durchaus beachtliche Fahndung nach dem kurpfälzischen Ketzer gelaufen zu sein – gemessen daran, dass im Zeitalter vor Telegraf und Fotografie mit Steckbriefen und Meldereitern gearbeitet werden musste. Doch um sicher zu reisen, war bereits im 16. Jahrhundert der Besitz von obrigkeitlichen Schutzbriefen, also von Pässen vonnöten.
Und was die Flucht in die Türkei betraf: Die Ungarn sperrten im Zweifel Fremde aus allen Himmels- und Reiserichtungen ein.
Indem sich Neuser dem Sultan angedient hatte, kam Strafbarkeit wegen Hochverrats in Betracht – mit der Regelstrafe Vierteilung, aus Vereinfachungs- und Milderungsgründen der Enthauptung. Sein Vorwurf an die Adresse der Christenheit, mit der Dreifaltigkeitslehre einen Götzendienst zu betreiben, war reichsrechtlich ebenfalls mit der Todesstrafe bedroht – das war spätestens seit dem Feuertod von Michael Servetus jedem humanistisch gebildeten Justizbediensteten klar.
Um vor einer Rücküberstellung ins Heilige Römische Reich deutscher Nation dauerhaft geschützt zu sein, ließ sich Neuser nach Freilassung aus der osmanischen Untersuchungshaft offenbar beschneiden und erklärte seinen Übertritt zum Islam – worin nicht nur theologisch eine gewisse Folgerichtigkeit lag, schien dieser doch eine Art monotheistisches besseres Christentum zu sein.
Ironie des konfessionellen Asyls: Im Juli 1573 wurde Adam Neuser, alias Mustafa Beg, Zeuge der brutalen Hinrichtung eines muslimischen Theologen, der unter dem Verdacht stand, eine Art Dreifaltigkeitslehre unter Verehrung von Allah, Mohammed und Ali etabliert zu haben.
Lehren aus der Geschichte?
Eigentlich sollte der Fall Neuser von jedem Germanistikstudenten (w/m/d) ab dem zehnten Fachsemester aus dem Effeff nacherzählt werden können. Denn kein Geringerer als Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) ging bald 200 Jahre nach Adam Neusers Tod – dieser verstarb 1576 ohne amtliches Mitwirken in Istanbul – der Frage nach, ob die kurpfälzischen Justizbehörden den oben zitierten Brief Neusers an den Sultan womöglich zulasten des Verdächtigten friesiert hatten. Für Lessings These fanden sich 2011 starke Belege.
Nebenbei zeigt der Fall Neuser zudem ein ganz herrliches Durcheinander von Christen und Muslimen – vom Rand des Spielfelds kommentierten damals auch jüdische Stimmen die eigenartige christliche Theologie –, wie furchtbar einfältig heutige Vorstellungen vom "christlichen Abendland" oder von "dem Islam" sind.
In Deutschland blieben Christen, die sich der Dreifaltigkeitslehre verweigerten, bis ins 19. Jahrhundert Gläubige minderen Rechts, wenngleich die Todesstrafe in Vergessenheit geriet.
Durch Unterdrückung ihrer Organisationsfreiheit sowie durch die Auswanderung nach Siebenbürgen, Nordamerika und Russland geschwächt, fehlte den christlichen Dissidenten – Unitarier, Wiedertäufer – in Deutschland das Gewicht, 1919 für ein stärker egalitäres Staatskirchenrecht Lobbyarbeit zu leisten, als es Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung bis heute vorgibt. Die klare Trennung zwischen Staat und Kirche in den USA oder in Frankreich war ja nicht allein das Werk aufgeklärter Atheisten, sondern vor allem der Verfolgungserfahrung christlicher Dissidenten jenseits von Papst- und Luther-Anhängern geschuldet.
Hinweis: Die Geschichte ist hier stark vereinfacht nachgezeichnet aus: Martin Mulsow, "Fluchträume und Konversationsräume zwischen Heidelberg und Istanbul. Der Fall Adam Neuser", in: ders. (Hg.): "Kriminelle – Freidenker – Alchemisten", Köln u.a. 2014.
Religionsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 28.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36719 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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