2/2: Hartz-IV-Verwissenschaftlichung selbst begrenzt
Willoweit sieht also den "puren Dezisionismus" aus der politischen Sphäre soweit entschwunden, die verwissenschaftlichte Politikberatung als so stark an, dass sich verfassungsrechtliche Probleme ergäben, übertriebe man es weiter mit der Heilskompetenz der Wissenschaft. Im Anschluss an Eberhardt Schmidt-Aßmann formuliert er: "Danach wäre eine Verpflichtung von Staatsorganen, Ergebnisse wissenschaftlicher Beratung politisch '1:1 umzusetzen, entweder nicht ernst gemeint oder verfassungswidrig'. Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt 'die Rückführbarkeit jeder staatlichen Willensentscheidung auf das Volk'. Nicht die Wissenschaft legitimiert das Gesetz, sondern der parlamentarische Gesetzgeber."
Boshaft könnte man einwenden, dass die deutsche Universität von Akademikern bevölkert wird, die nach dem Willen des Gesetzgebers mit einem blödsinnigen Sonderarbeitsrecht kujoniert und von Drittmittelabhängigkeiten geknechtet werden. Die Zeiten von spitzbärtigen Professoren des 19. Jahrhunderts, die nach Art eines Rudolf Virchow (1821-1902) neben der Mikrobe auch noch dem monarchischen Dezisionimus den Garaus machen wollten, wenn sie könnten, sind reichlich vorbei.
Weniger boshaft ist der Blick auf die nüchterne Selbstbeschränkung "der Wissenschaft", zu finden in der "Zeitschrift für Rechtssoziologie" 32 (2011, S. 27-42). Unter dem etwas barocken Titel "Erfüllen Gesetzesfolgenabschätzung und Gesetzesevaluation die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren? Überlegungen anlässlich des 'Hartz-IV-Regelsatz-Urteils'" prüft die Speyerer Juristin Corinna Sicko einen Teilbereich der – wenn man so will – Verwissenschaftlichung politischer Entscheidungsprozesse.
Im sogenannten "Hartz-IV-Urteil" (v. 09.02.2010, Az. 1 BvL 1/09) habe das Bundesverfassungsgericht "sehr plakativ im dritten Leitsatz" etwas "inhaltlich lediglich Altbekanntes" wiederholt, unter anderem, dass der Gesetzgeber zur "Ermittlung des Anspruchsumfangs" in einem "transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren" vorgehen müsse.
Holzschnittartig zusammenfassen lässt sich Sickos Analyse vielleicht so: Das Verfassungsgericht verlangt dem Gesetzgeber zwar ein verwissenschaftlichtes Verfahren in einem Kerngebiet der Sozialpolitik ab, der Sicherung des Existenzminums, lässt ihm aber freie Hand bei der Wahl der Methoden. Auch die – wissenschaftliche – Gesetzgebungsevaluation ist insoweit methodisch nicht viel schlauer als das Verfassungsgericht.
Statt Nörgelei an Wissenschaftlichkeit: Missionswerk Aufklärung
Sickos Analyse lässt nicht nur an der These zweifeln, dass eine Machtübergabe vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber an einen Wissenschaftsbetrieb drohe, der in sakralen Sphären schwebt.
Sie lässt auch erkennbar Raum für grundsoliden Machiavellismus an der Schnittstelle Macht/Wissenschaft, der sich in einer Doktrin ausdrückt, die dem letzten bekennenden Macht-Liebhaber Deutschlands zugeschrieben wird, Joseph Fischer. Für jeden akademisch abzusichernden Standpunkt, so diese Doktrin, finde sich im Gesetzgebungsverfahren doch stets ein Wissenschaftler, der sie gutachterlich vertritt.
Und doch, um beim Beispiel zu bleiben, wohin man blickt: Engagierte Juristen, gerne in Gestalt von sozial nervösen Rechtsanwälten, die etwa die wissenschaftliche Tragfähigkeit der "Hartz-IV"-Regelsätze benörgeln, als ginge es politisch um etwas anderes: Die Macht, Gutachter auszuwählen.
Die überschüssige Energie könnte man sich anderswo besser eingesetzt vorstellen: Was tut unsere Rechtswissenschaft überhaupt, um ihre Ideen in fremde Gesellschaften einzuschmuggeln? Dorthin, wo der Arbeiter billiger ist als es der deutsche Transfergeldempfänger je würde?
Oder: Welche Rechtstitel hat der afrikanische Bauer, wenn ihm der chinesische Staatsfond das Land unter dem Boden wegkauft? Wer hilft ihm dabei, sie zu formulieren – der saudi-arabische Sharia-Gelehrte oder der europäische Rechtshistoriker?
Statt über normative Kleinstkriege wie 40-Euro-Regelsatzfragen oder die wenigen halbwegs echten Wissenschaftssakralisierungen (z.B. Klimaschutzpolitik) zu nörgeln, sollte man der Frage nachgehen, welche Missionsleistungen man dem westlichen Recht abverlangen darf.
Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 17.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8339 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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