Weil es 1887 noch keine Berge an Literatur zum § 267 StGB gab, liest sich das Reichsgerichtsurteil auch ganz putzig. Man spielt allerlei Fallvarianten durch, die das Ergebnis relativieren oder stützen. Heute stünden dort statt Gedankenspielen Literaturbelege. Leider findet sich in diesen Gedankenspielen keines, das den Fall des BGH aus dem Jahr 2011 vorweggenommen hätte: Wie wäre der Fall zu beurteilen gewesen, wenn der "Kurpfuscher" seine Ratschläge nicht mit dem Qualitätssiegel des "Sanitätsrats" verkauft hätte?
Mit Urteil vom 13. Januar 2011 definierte der BGH (Az. III ZR 87/10) die Spielregeln für so genannte "astrologische Lebensberatung" dergestalt, dass ein dienstvertraglicher Entgeltanspruch des Astrologen gegenüber seinem Klienten in Frage kommt, wenn sich beide Seiten des Unfugs bewusst und der vereinbarte Betrag nicht sittenwidrig sei (Az. III ZR 87/10). Demnach hätte sich ein "Kurpfuscher" 1887 mit etwas Ehrlichkeit vor dem Zuchthaus bewahren können.
Reichsgericht oder BGH? Wir sagen nur: China, China, China
So richtig es war, dass der BGH die Vertragsautonomie in seinem Astrologie-Urteil betonte – nicht allein, weil es kein Astrologe vorausgesehen hatte –, so sehr scheint das Leipziger Reichsgericht seiner Karlsruher Nachfolgeeinrichtung überlegen zu sein: Als deutscher Exportartikel für das Mutterland von Aberglauben und Quacksalberei, sprich: für die Volksrepublik China.
Petra Kolonko, China-Korrespondentin der "FAZ", kündigte bereits zum chinesischen Neujahrsfest im Januar an, dass in den nächsten Monaten die Geburtenrate in der Volksrepublik nach oben schnellen würde. Nicht, weil es wirtschaftlich so rosig aussieht, sondern weil sich Eltern im "Jahr des Drachen" besondere Chancen für ihren Nachwuchs erhoffen. Kolonkos Ankündigung bewahrheitet sich tatsächlich: Zurzeit verteuert die Familienplanung aus astrologischen Gründen Windeln und Hebammendienste, 2012 erwartet China überdurchschnittlich viel Nachwuchs.
Im Jahr 2011 plünderte eine – sehr wahrscheinlich von der "Traditionellen Chinesischen Medizin" (TCM) motivierte Verbrecherbande auch deutsche Museen. Es wurden uralte Nashornköpfe ihrer Hörner beraubt, weil von deren Substanz nach angeblich uralter asiatischer Kurpfuscherei heilende Wirkung ausgeht. Besonders bizarr ist der Boom dieses Aberglaubens (auch im Westen), weil man sich in China selbst über die "TCM" noch in den 1920er-Jahren eher lustig machte und die "westliche", naturwissenschaftlich fundierte Medizin für überlegen hielt. Eine modernisierte "TCM" wurde erst seit den 1950er-Jahren von Staats wegen gefördert, um die medizinischen Versorgungslücken der kommunistischen Mangelwirtschaft zu übertünchen.
Was das mit einer Überlegenheit des Reichsgerichts über den BGH zu tun hat?
Die Politikwissenschaftlerin Karin Kinzelbach attestierte dem so genannten europäisch-chinesischen "Menschenrechtsdialog", der wegen mancher beteiligter deutscher Juristen auch ab und zu den Weg in rechtswissenschaftliche Zeitschriften findet, ein bloß diplomatisches Ritual zu sein, mit dem sich die chinesische Regierung offener Kritik an fehlender Rechtsstaatlichkeit entziehe.
Unter manchen sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten liegt die Volksrepublik China heute wohl näher am Deutschen Kaiserreich von 1887 als an der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2012. Man nehme zum Beispiel die Verteilung der Land- und Stadtbevölkerung – oder auch die Abscheu der Regierung vor frei organisierten Gewerkschaften und legalen Arbeitskämpfen. Nicht zu vergessen: der verbreitete Aberglaube in medizinischen Fragen.
Weil das heitere Spiel mit dem Aberglauben in Fernost ja hinreichend bekannt ist und sogar von Staats wegen gefördert wurde, BGH-Urteile wie das genannte also nicht hilfreich wären, könnte man auf den Gedanken kommen, die Bundesregierung sollte lieber die Entscheidungen des Reichsgerichts ins Chinesische übersetzen lassen, als deutsche Juristen auf rituelle "Dialog"-Touren zu schicken.
Vielleicht würden es der Bundesregierung ja eines Tages nicht nur die Nashörner danken.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: . In: Legal Tribune Online, 19.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6868 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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