Scherz und Ernst: Intra-uterine Hausgemeinschaft

von Martin Rath

26.01.2014

Nach der Freigabe von Schwangerschaftsabbrüchen durch den US Supreme Court kamen in den 1970er Jahren fortpflanzungsrechtliche Fragen vermehrt auch im deutschsprachigen Raum auf. In Österreich entdeckte man die Rechtsfigur der "intra-uterinen Hausgemeinschaft". Was auf den ersten Blick ein Scherz ist, führt in einen Abgrund und zu einem großen Anwalt. Von Martin Rath.

Im Gegensatz zu Witzen, die sich normalsterbliche Menschen erzählen, leiden Juristen-Scherze nicht zwingend darunter, wenn es für die Pointe einige Erklärungen braucht. Um es darauf ankommen zu lassen: Das Schiedsgericht der Sozialversicherung für Tirol hatte darüber zu befinden, ob ein Kind, das nach der Geburt eine Weile im Krankenhaus behandelt werden musste, über die Sozialversicherung des Großvaters mitversichert sei (Entsch. v. 02.08. 1972, Az. 1 C 320/72). Witzlos war die Rechtsfrage, wie sie der Salzburger Professor Erwin Migsch der Juristenzeitung mitteilte, insoweit, als sich die Antwort auch unmittelbar aus dem Gesetz greifen ließ (JZ 1974, S. 744-745).

Das Gericht stellte aber, was es sich von Gesetz wegen hätte sparen können und womit wir zur komischen Seite kommen, fest, dass das Kind vor der Geburt in Hausgemeinschaft mit dem Großvater gelebt habe, weil die Mutter "die ganze Tragezeit" dort verbracht habe: "Während dieser Tragezeit mußte das Kind ja auch über die Mutter in deren Leib ernährt werden", die Mutter wiederum von ihren Eltern. "Der so umschriebene Sachverhalt", so Erwin Misch, "kann meines Erachtens treffend als intra-uterine Hausgemeinschaft gekennzeichnet werden."

Österreich fragt heiter, Deutschland antwortet düster

Das ist eine ulkig wirkende Rechtsfigur und der Scherz wäre damit fertig, folgte ihm nicht noch die Frage des österreichischen Jusprofessors an das juristische Publikum der frühen 1970er-Jahre: "Vielleicht kennt einer der geneigten Leser ein Land, welches sich für Wohnsitzfragen des Ungeborenen interessiert oder geneigt ist, in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten pränatalen Gegebenheiten Rechnung zu tragen?"

Die düstere Antwort kam aus Düsseldorf bzw. aus Stuttgart. Sie beruht auf § 141 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Die Vorschrift gewährt vom NS-Staat zur Auswanderung getriebenen sowie deportierten oder ausgewiesenen Deutschen bei Rückkehr einen Soforthilfe-Anspruch in Höhe von 6.000 Mark. Voraussetzung ist ein Wohnsitz in den Reichsgrenzen zum 1. Dezember 1937. Das Landgericht Düsseldorf musste dem Land Nordrhein-Westfalen mit Entscheidung vom 3. Februar 1964 (Az. 23/31 O 177/63) erklären: Ein Kind, das "im Zeitpunkt der Deportation seiner Eltern noch nicht geboren worden war, sondern erst in Theresienstadt geboren worden ist", habe bereits Anteil am früheren Wohnsitz seiner Mutter (abgedruckt in: "Rechtsprechung zum Wiedergutmachungsrecht" 1964, S. 462).

Hinweis vom fachkundigen Rechtsanwalt

Den Hinweis gab ein Rechtsanwalt aus Stuttgart, Dr. Otto Küster (1907-1989). Von Verfassungshistorikern und Forschern zum Wiedergutmachungsrecht abgesehen, dürfte der Name nur wenigen Juristen bekannt sein. Schon in seiner kleinen Replik zeigt sich Küster engagiert: Sogar mit der Frage, wie "mit der Zeugung auf deutschem Schiff, jedenfalls solange es noch die deutschen Küstengewässer befuhr" habe man sich im "Ghetto der Wiedergutmachung" befasst. Etwas Bitterkeit klingt an, in dieser Antwort des Stuttgarter Anwalts auf den heiteren Salzburger Professor (JZ 1974, S. 36).

Der bittere Anklang ist verständlich. Küster war in den 1950er-Jahren in die Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel bzw. der Jewish Claims Conference involviert und vertrat eine primär ethisch, nicht fiskalpolitisch begründete Entschädigung jüdischer NS-Opfer. Seine Entlassung als Staatsbeauftragter für Entschädigung des Landes Baden-Württemberg hatte er u.a. dem nur bedingt menschenfreundlichen Ministerpräsidenten Gebhard Müller (1900-1990) zu verdanken, aus dem später der dritte Präsident des Bundesverfassungsgerichts werden sollte. Wenn es um die Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts gehe, verwandle sich das Kabinett in Stuttgart "zu einer Waschküche tuschelnder Weiber", hatte Küster in einem Privatbrief geäußert, der durch einen indiskreten Journalisten der baden-württembergischen Regierung zugespielt worden war.

Mehr als ein "engagierter" Rechtsanwalt

Ein moralisch engagierter Rechtsanwalt also, der gegen die lustige Pointe des Salzburger Professors ebenso intervenieren muss, wie gegen Schäbigkeiten in der sogenannten Wiedergutmachungspraxis? Vielleicht war er das auch, aber anders, als man sich das heute vorstellt. Historiker, die sich mit der Vorgeschichte des Grundgesetzes befasst haben, erklären, dass Otto Küster als Teilnehmer am Verfassungskonvent von Herrenchiemsee die Idee des konstruktiven Misstrauensvotums eingebracht hat. Das Treffen zwischen dem 10. und 23. August 1948 bereitete die Beratungen des Parlamentarischen Rates in wesentlichen Fragen vor. Ausweislich der überlieferten Protokolle war der nicht stimmberechtigte Vertreter Küster dort einer der fleißigsten Diskussionsteilnehmer.

Der anwaltlichen Tätigkeit Otto Küsters verdanken wir zudem eines der ganz großen Stücke juristischer Rhetorik in Deutschland: Im Wollheim-Prozess trug Küster vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main vor, was die IG Farben AG als Betreiberin des Chemiewerks Auschwitz ihrem Arbeitssklaven schulde, so wie seinem Mandanten Norbert Wollheim (1913-1998): Ein Minimum an moralischen Standards, gefasst in die Kürze einer zivilprozessualen Gerichtsrede. Man findet nicht viel Rhetorik dieser Art in deutscher Sprache (PDF des maschinenschriftlichen Skripts).

Doch ist das keine Moral vom uferlosen oder unbedachten Typus: Auch ein führender Kommentar zum BEG stammt von Küster. Vom NS-Staat verfolgte Zigeuner mussten dort finden, dass sie ihre Qual kriminal-, nicht rassepolitischen Gründen verdankten. Eine Entschädigung fand deshalb nicht statt. Mitunter bleiben auch bemerkenswerte Juristen dann doch in ihren Konstruktionen gefangen.

Verfassungsväterpatriotismus

Otto Küster erinnert an eine Lücke im deutschen Gefühlshaushalt. Als das Grundgesetz 30 Jahre alt wurde, 1979, sah der hoch angesehene Publizist Dolf Sternberger (1907-1989) im Verfassungspatriotismus eine Möglichkeit, zuvor an den nackten Staat oder das merkwürdige Volk adressierte Emotionen zu artikulieren. Ein Blick ins mitunter nicht zuletzt ästhetisch verhunzte Grundgesetz, namentlich ins Abwasserentsorgungsgebührensatzungsdeutsch der Artikel 13a und 16a, macht Ergebenheitsgefühle, an die Sternberger gedacht haben mag, inzwischen unwahrscheinlich.

Aber was wissen wir eigentlich von den Herren und wenigen Damen, die im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee oder im Parlamentarischen Rat zu Bonn stritten? Was von ihrem verfassungsrechtlichen oder von ihrem ethisch-moralischen Herzblut? Kennt man überhaupt ihre Namen?

Ein Österreicher macht einen Scherz. Wir folgten der Pointe und fanden einen dieser großen Unbekannten. Das ist kein schlechter Ansatz zur rechtshistorischen Lückenfüllung.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Scherz und Ernst: . In: Legal Tribune Online, 26.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10774 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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