2/2: Fallbeispiele wie bei Sherlock Holmes
An die systematische Kritik am unhandlichen Wiederaufnahmerecht schließt sich in Alsbergs "Justizirrtum und Wiederaufnahme" eine Sammlung von Fallbeispielen aus der Strafjustiz des Kaiserreichs an, dokumentiert von kritischen Anwälten. In welchem Ausmaß die Strafgerichte irrtumsanfällig waren, illustriert ein vom Leipziger Verteidiger Dr. Martin Drucker (1869-1947) berichteter Fall.
Ein Schneidermeister, ehelich nicht besonders treu, geriet bei einer Sauftour in einer fremden Stadt an eine Prostituierte. In einer (womöglich) einschlägigen Unterkunft wachte er am nächsten Tag auf, angeblich, ohne zu wissen, wie er dort hineingeraten war. Der Tatvorwurf: Er soll an jenem Morgen ein 13-jähriges Mädchen, das in einem Zimmer dieser Wohnung schlief, sexuell belästigt haben. Die Prostituierte, mit der der Schneidermeister unterwegs gewesen war, gab ihm zwar ein Alibi, doch das Gericht stützte sein Urteil allein auf die Aussagen des Kindes. Abgeurteilt wurde der Mann wegen Unzucht mit Minderjährigen, worauf nach § 176 Reichsstrafgesetzbuch Zuchthaus bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen "Gefängnißstrafe nicht unter sechs Monaten" stand.
Das Gericht ignorierte dabei offenbar alle Tatsachen, die für die fehlende Wahrheitstreue des Mädchens sprachen, ebenso das Alibi des Mannes. Dass das Kind in der Folge nach Amerika durchbrannte, lies im Wiederaufnahmeverfahren jedoch erste Zweifel aufkommen. Diese verstärkten sich sodann im Rahmen einer Sherlock-Holmes-würdigen Beweisaufnahme. Drucker erfragte bei der staatlichen Sternwarte einen Zeitpunkt, zu dem das Gericht den vermeintlichen Tatort unter Bedingungen in Augenschein nehmen konnte, die jenen der behaupteten Tatnacht glichen. Die Inaugenscheinnahme ergab sodann, dass es zum angeblichen Tatzeitpunkt in der Kammer des Mädchens so dunkel gewesen war, dass weder der Verdächtige für die Zeugin als Person, noch für den "Täter" das Alter der "Geschädigten" erkennbar gewesen sein konnte.
Bitte ein bisschen mehr Traditionspflege
Martin Drucker, der zwischen 1924 und 1932 Präsident des Deutschen Anwaltvereins war, verlor 1933 sein Notariat und die sächsische Anwaltskammer drang 1935 – erfolglos – auf seinen Ausschluss als angeblicher "Schandfleck der deutschen Anwaltschaft". Er überlebte, unter schweren Verlusten, den NS-Staat und den Zweiten Weltkrieg. Der Herausgeber des Werks "Justizirrtum und Wiederaufnahme", Max Alsberg, 1877 in Bonn geboren, nahm sich am 11. September 1933 im Schweizer Exil selbst das Leben. Aus seiner 1931 erteilten Berliner Professur gedrängt und wirtschaftlich ruiniert wurde er noch postum wegen "jüdischer Zersetzungsversuche" zur Unperson erklärt.
In den endlosen Blog-Auseinandersetzungen um den Fall Gustl Mollath wird mitunter behauptet, die Unbeweglichkeit der bayerischen Justiz sei auf alte Seilschaften zurückzuführen, die noch in die NS-Zeit zurückreichten. Das ist unfassbar absurd und verwirft über 60 Jahre Republik und Verfassung.
Dass aber die systematische Auseinandersetzung mit Justizunrecht kaum als gut gepflegte deutsche Juristentradition gelten kann, darf man wohl auf den Zivilisationsbruch zwischen 1933 und 1945 zurückführen. Das Indiz ist vielleicht kein starkes, aber es ist mit Händen zu greifen: Über 3.000 Studentinnen und Studenten zählt die Juristische Fakultät der Universität zu Köln, Tausende Juristen haben sich dort intellektuell für die Pflege unseres liebenswerten Rechtsstaats ausrüsten lassen. Das Buch aus dem Jahr 1913 indessen riecht dezent nach Alter, abgegriffen von Studentenhänden ist es nicht.
Sich selbst ein Bild zu machen, wie viel Alsberg heute noch zählt, ist derweil glücklicherweise leicht geworden – ein PDF des Buches kann sich jeder auf Rechner oder eBook-Reader laden, solange er kein kommerzielles Ziel verfolgt. Der Bibliotheksverbund Bayern hält eine digitale Fassung bereit.
Das Werk liegt übrigens – ausgerechnet – auf dem Server der Universität Regensburg. Ja, Regensburg.
Man möchte – im LTO-Sonntagsfeuilleton – fast einen theologischen Witz daraus drehen (1. Mose 18; 16-33). Dieses Pathos wäre aber verfrüht und sicher auch ein bisschen geschmacklos.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913 bis heute: . In: Legal Tribune Online, 28.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9231 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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