2/2: Eigentlich ganz vorbildliches Gezänk
Beim Reichskammergericht spielte der Kalenderstreit derweil noch in eigener Sache eine Rolle: Weil die Richterschaft in eine evangelische und eine katholische Fraktion geteilt war, so wie man das heute manchem Gerichtshof unter parteipolitischen Vorzeichen nachsagt, war zunächst die Terminierung der Gerichtsferien strittig.
Die Räte des Reichskammergerichts lösten dies auf jene pragmatische Weise, die man Juristen von jeher nachsagt: Sie nutzten das Beste der beiden unterschiedlichen Gerichtsferien-Zeiträume, indem sie einfach möglichst lange frei nahmen, um die Systeme in Deckung zu bringen.
Zum Pragmatismus deutscher Juristen mussten andere Völker von Ordnungsliebhabern anderer Güte geführt werden. Russland wechselte erst unter den Kommunisten vom julianischen zum gregorianischen Kalender, China – das übrigens keine Sommerzeit kennt – zog nach.
Kalendarischer Wettbewerbsföderalismus
Der Unordnung im Zeitgefüge lässt sich möglicherweise einiges abgewinnen: Im Appenzell, in der Schweiz, waren konfessionelle Kalenderfragen ein wesentlicher Streitgegenstand zwischen den größeren und den kleineren Dörfern des Landes.
Man würde den helvetischen Erfindern des Wettbewerbsföderalismus Unrecht tun, wollte man behaupten, ihre vorbildliche Staatsorganisation beruhte auf dem Umstand, dass die Einwohner des einen Alpentals das Schweizerdeutsch ihrer Nachbarn hinter dem nächsten Berg schon nicht mehr verstünden. Neben dem Sprachproblem zählte zu den Geburtshelfern des Schweizer Föderalismus – und wohl auch des deutschen – der Umstand, dass man teils jahrhundertelang nebeneinander und kalendarisch aneinander vorbeilebte.
Man stelle sich das einfach einmal heute am Gegenstand des aktuellen Zeit-Ärgernisses vor: Linke Lehrer, also gemeinhin sehr staatstreue Leute, befolgen die Sommer-/Winterzeit-Regelung, während die Schulkinder, also ein zumeist sehr konservatives kleines Volk, dem natürlichen Zeitgefühl folgt und die Uhrendreherei ignoriert.
Deklinieren wir das anhand aller denkbaren, juristischen Konflikte durch: Statt nur gelegentlich bei Lohnstreitigkeiten vor Gericht verhandelt zu werden, würde die Zahl der juristischen Konflikte um die Uhrzeit schier explodieren.
Besagte Lehrer kämpfen gegen Handwerker, weil letztere Lärm machen? Man könnte sich kaum über die Uhrzeiten verständigen, zu denen die Bohrmaschinenfetischisten, Steinschneider und Presslufthämmerer ihrem natürlichen Instinkt folgen dürfen – und der deutsche Lehrkörper ist schließlich rechtsschutzversichert.
Es bleibt eine schöne Phantasie am Tag der Uhrenumstellung. Ob sich anders als durch Anarchie das Brüsseler Teufelswerk der europäischen Sommerzeit aus der Welt schaffen ließe?
Mit Vernunft ist der Sommerzeit-/Winterzeit-Regelung ja leider nicht beizukommen.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht der Zeit: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9905 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag