2/2: Unruhen sind Weltkrieg im Sinne des Versorgungsrechts
Einem Mann, der bei Hungerunruhen im Sommer 1919 erschossen wird, ist nur bei sehr historischer Betrachtungsweise ein Schaden "durch den letzten Krieg" zugefügt worden, in dem die Waffen bekanntlich seit dem 11. November 1918 stillstanden. Aus der unklaren juristischen Verweistechnik zwischen Reichstumultschadensgesetz und Personenschädensgesetz glaubte der Vertreter des Reichsfiskus herauslesen zu dürfen, dass diese Unruhen keine Versorgungsansprüche begründeten.
Das Reichsgericht löst die Verweistechnik anders und rechtfertigt dies mit der – womöglich rein politischen – Rhetorik im Gesetzgebungsverfahren: Die Reichsregierung habe seinerzeit das "Versprechen" gegeben, "die Tumultpersonenschäden in möglichst gleicher Weise wie die durch den Krieg verursachten Militär- und Zivilpersonenschäden zu regeln". Altfälle waren demnach noch versorgungsberechtigt.
Renten und Patriotismus für das Volk
Bemerkenswert ist die Rhetorik des Reichsgerichts, das hier aus Illustrationsgründen noch den polnischen Separatisten im Osten ihren Verrat am Reich ankreidet und ohne juristische Notwendigkeit ein deutsches "Wir" gegen die feindlichen "Anderen" ausformuliert. Daneben sind die gesetzlichen Innovationen jener Jahre höchst interessant. Gleich auf das genannte Personenschädensgesetz vom 15. Juli 1922 folgt im Reichsgesetzblatt ein "Gesetz über den Ersatz der durch die Verletzung des Reichsgebiets verursachten Personenschäden" (RGBl. I , 620 bzw. 624).
In den vergangenen Jahren hat der Historiker und Journalist Götz Aly für einige Furore gesorgt, indem er manche Wurzel des deutschen Sozialstaats der Bundesrepublik im NS-Staat ausmachte. Neben der direkten Bereicherung an "jüdischem Vermögen" sei die Bevölkerung auch durch die Rentenpolitik bei Laune gehalten worden.
Gesetzgebung und Rechtsprechung der frühen 1920er-Jahre versuchten, das Volk angesichts der Rheinlandbesetzung durch britische, belgische, französische und US-amerikanische Truppen ab 1919 zumindest durch Versorgungsansprüche nach Personenschäden bei Laune zu halten. Noch die höchstrichterlichen Urteile berufen sich dabei salbungsvoll auf patriotische Gefühle.
Friedensvertrag zwischen den USA und Deutschland
Fast vergessen, dass zwischen Deutschland und den USA ein eigener Friedensvertrag abgeschlossen wurde. Den Versailler Vertrag hatte der US-Senat bekanntlich nicht ratifiziert, weil mit ihm zugleich der Völkerbund gegründet wurde, dem das Land nicht beitreten sollte.
Mehrere Entscheidungen des Reichsgerichts aus dem Jahr 1923 behandelten diese Friedensverträge, das Urteil vom 2. Juni 1923 (Az. I 471/22) beispielsweise in der Frage, ob eine US-amerikanische Klägerin "mangels Neuheit" gegen ein Patent vorgehen kann, das bereits am 7. April 1913 – vor dem Krieg also – im Reichsanzeiger veröffentlicht worden war.
Der Versailler Vertrag enthielt eine ganze Vielzahl von Regeln, die den Krieg auch auf ökonomischem Gebiet beenden sollten: Was sollte beispielsweise geschehen, wenn der Einspruch gegen gewerbliche Schutzrechte infolge der Kriegshandlungen nicht möglich war? Artikel 307 des Versailler Vertrags sah hier eine Nachfrist vor, die mit dem Friedensschluss begann.
Die USA setzten die völkerrechtlichen Regeln zum ökonomischen Ausgleich – wie im deutsch-amerikanischen Friedensvertrag vom 25. August 1921 vorgesehen – nicht ausdrücklich in Kraft. Mit der Folge, dass sich der US-Kläger nicht gegen das deutsche Patent wehren konnte, wie das Reichsgericht ermittelte.
Die EU und der Versailler Vertrag
Richtig verwickelt wurde es in einem Urteil, das den Weg eines Wechsels nachzeichnete, der am 2. Juni 1914 auf eine Filiale der Dresdner Bank in London gezogen worden war – durfte das Papier eingelöst werden, als es nach dem Krieg der Dresdner Bank in Deutschland präsentiert wurde, oder war es der Beschlagnahme durch die britische Regierung unterworfen?
Die Antwort (Urt. v. 2.6.1923, Az. V 755/22) zeigt höchste deutsche Richter beim Grübeln. Dabei war die Wirtschaftsordnung des Versailler Friedensvertrags, im Vergleich zur heutigen EU-Rechtsordnung, noch gut überschaubar.
Verächter der EU-Verträge sollten vielleicht häufiger in den verstaubten Entscheidungsbänden nachschlagen. Konservative Bestandswahrung hat ja ihren Reiz. Und zur Entspannung dann vielleicht den stotternden Prinzen und seine pferdeliebe Gattin auf staubfreier DVD anschauen.
Justiz in der Weimarer Republik: . In: Legal Tribune Online, 02.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8823 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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