2/2: Billard in Toronto
In einem deutlich weniger exotischen Fall, deuten sich die politischen Gründe für den späteren Niedergang des JCPC an. Am 15. Dezember 1883 bestätigte der Council das Urteil eines kanadischen Gerichts im Fall eines Gastwirts aus Toronto, der die Lizenz besaß, in seiner Wirtschaft Billard spielen zu lassen. Er kam mit dem Recht in Konflikt, als mit der Ernennung eines neuen kommunalen Wahlbeamten für Schanklizenzen, verkündet wurde, dass in Gastwirtschaften keine Vergnügungsangebote wie Billiard mehr feilgeboten werden dürften. Verbunden war das Verbot mit der Androhung empfindlicher Geldstrafen oder Haft zuzüglich Zwangsarbeit während derselben.
Dass ihm dies bekannt gemacht wurde, hatte der Gastwirt unterschrieben. Am 19. Mai 1881 verurteilte ein Polizeirichter ihn wegen Verstoßes gegen das kommunale Schankgesetz zu einer Buße von 20 Dollar zuzüglich 2,85 Dollar für die Verwaltungskosten. In der Kneipe war nämlich ein paar Tage zuvor an einem Samstag Billard gespielt worden. Das war deshalb ein Rechtsproblem, weil die Schankverordnung vorsah, dass Kneipen zwischen Samstagabend 19 Uhr und Montagmorgen sechs Uhr geschlossen zu halten seien.
Die Verteidigung machte geltend, dass das Provinzparlament von Ontario nach dem Grundsatz "delegata potestas non potest delegari" die imperiale, dem Staatsparlament zugewiesene Strafgewalt nicht auf lokale Schankbeamte habe delegieren dürfen. Die kanadische und die Londoner Appellationsinstanz argumentierten hingegen, hier sei nicht "top down" Strafgewalt nach unten delegiert worden, sondern innerhalb der von London gesetzten verfassungsmäßigen Grenzen regele der kanadische Staat derartige Ordnungsangelegenheiten im Rahmen guter Regierungskunst aus eigener Kompetenz.
Merkwürdige Kompromisse in der Karibik
Trotz solcher Konzessionen an den imperialen Föderalismus steht die Rechtsprechung des JCPC vor allem in Kanada bis heute in der Kritik. Ihm wird beispielsweise vorgeworfen, nach dem Börsenkrach von 1929 gute Teile der kanadischen Wirtschaftsgesetzgebung kassiert zu haben.
Zwar ließen sich auch Staaten, die den britischen Monarchen bis heute als Staatsoberhaupt anerkennen, auf einen merkwürdigen Kompromiss ein. Grob formuliert: Als Vorrecht der Königin bzw. des Königs wird anerkannt, Appellationen aus ihren überseeischen Reichen vom JCPC klären zu lassen. Andererseits haben diese Staaten das Recht, Appellationen im Rahmen ihrer Verfassungen eigenen Gerichten zuzuweisen, ohne dadurch den Weg nach London komplett abzuschneiden.
Abgeschnitten haben sie inzwischen fast alle. Nur in einigen Staaten der Karibik steht das JCPC erst seit einigen Jahren stark im Widerstreit zwischen Demokratie und Rechtsstaat. Der Rechtsstaat spricht mit den Worten: "Ihre Lordschaften werden Ihrer Majestät demütig empfehlen, dass diese Appellation wirksam werde, sodass die Urteile der Rechtsmittelführer in lebenslange Haft umgewandelt werden."
Die karibischen Demokraten wollen hingegen, dass zum Tode Verurteilte auch dann noch hingerichtet werden, wenn sie schon mehr als fünf Jahre in ihrer Zelle vor sich hinrotten.
Integration durch romantisch-feudale Herrenclubs
Imperialismus, auch in seinen schöneren, juristischen Formen, hat keine gute Presse. Jonas-Sébastien Beaudry, ein hochgebildeter kanadischer Jurist und Rechtshistoriker, lastet beispielsweise dem anglo-indischen Rechtssystem gar noch an, das obskure "Dharma" der altindischen Rechtskultur ruiniert zu haben, liefert aber auch sachdienlichere Hinweise darauf, wie sehr das JCPC als politische Institution wahrgenommen werden musste, weil seine juristische Substanz letztlich sehr dünn war.
Im Vergleich zu manchem international tätigen Gerichtshof der Gegenwart steht das alte JCPC vielleicht gar nicht so schlecht dar. In jüngster Zeit wird beispielsweise Kritik laut, ausschließlich afrikanische Potentaten liefen Gefahr, nach internationalem Strafrecht in Den Haag vor Gericht zu kommen. Selbst wenn man dieser national-demokratischen Empörung afrikanischer Medienvertreter wenig abgewinnt, lässt sich doch fragen, ob internationale Gerichtshöfe fürs internationale Recht eine Legitimation durch Verfahren produzieren, wenn am Ende Massenmörder in komfortablen niederländischen Zellen sitzen und man sich in ihren Heimatländern gleichwohl über das böse Unrecht beschwert, das ihnen damit widerfahre.
Wie romantisch ist das hingegen: Von den fünf Lordschaften, die am 15. Dezember 1883 die Verurteilung des Schankwirts aus Toronto bestätigten, waren drei hochrangige Richter in Britisch-Indien gewesen. Die juristischen Karrieren im Weltreich waren nicht semipermeabel: Beispielsweise wurde die erste nennenswerte Moschee von London von einem britisch-indischen Privy-Council-Richter mitgegründet, dem liberalen Juristen Syed Ameer Ali (1849-1928).
Rechtssysteme brauchen zur Integration nicht nur anerkannte Verfahren, sondern die Chance auf etablierte Karrierewege. Ökonomisch und politisch ging es mit dem britischen Imperium eigentlich schon zu Ende, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Karrieren wurden nationalstaatlich, soweit nicht nach dem Zweiten Weltkrieg die großen UN-Bürokratien Netzwerke schufen.
Ob diese aber mehr zur internationalen Integration durch Recht leisten als die romantisch-feudalen Herrenclubs unter Queen Victoria?
Martin Rath, Judicial Committee of the Privy Council: . In: Legal Tribune Online, 24.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10138 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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