Ende Juli sorgte Japans Finanzminister für Aufsehen, weil er den Umbau der Verfassung nach NS-Methoden gelobt haben soll. Vor allem das pazifistische Leitmotiv der Nachkriegsverfassung solle revidiert werden. Man vergisst darüber die japanische Vorkriegsverfassung und den Kaiserkult. Martin Rath greift beides auf und präsentiert einen rechtlich-kulturellen Abriss zum Land der aufgehenden Sonne.
Hiroshima und Nagasaki, die Atombomben-Einsätze gegen die beiden japanischen Hafenstädte am 6. und 9. August 1945, sind im historischen Gedächtnis Japans und der westlichen Welt präsent, die völker- und verfassungsrechtlichen Daten hingegen bestenfalls in Japan selbst. Am 15. August 1945 strahlte das Radio den "Kaiserlichen Erlass über das Kriegsende" aus, die bildmächtige Inszenierung der förmlichen Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde folgte am 2. September an Bord der USS Missouri. Japanische Teilstreitkräfte in China und Singapur kapitulierten erst gut eine Woche später.
Gut ein Jahr darauf, am 3. November 1946, erhielt Japan, unter alliierter Besatzung stehend, seine neue Verfassung.
Wie Kriegsverzicht ins Auge sticht
Ende Juli 2013 geriet der japanische Finanzminister und Vize-Ministerpräsident Tarō Asō mit umstrittenen, schließlich dementierten bzw. relativierten Äußerungen in die internationalen Medien. Japan, so wurde der konservative Politiker zunächst verstanden, könne sich am Wandel von der Weimarer Verfassung zum "Staatsrecht des Großdeutschen Reiches" (Ernst Rudolf Huber) ein Vorbild nehmen. Auch ohne den Wortlaut der Verfassung zu ändern, lässt sich das Staatsrecht radikal verkehren, sollte das wohl heißen.
Ein Blick ins Gesetz und die aktuelle Berichterstattung lässt die allgemeine Empörung über das Politiker-Statement ein wenig albern aussehen. Artikel 9 der japanischen Verfassung sieht vor, dass "das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten" verzichte und darum "keine Land-, See- oder Luftstreitkräfte" unterhält.
Auch wenn durch die Zielsetzung des Kriegsverzichts "als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten" Streitkräfte zur Selbstverteidigung vom Wortlaut nicht ausgeschlossen sind, fragt sich, wie japanische Juristen wohl das Großereignis vom 6. August 2013 unter die Verfassungnorm subsumieren: Die Kriegsmarine Japans stellte die "Izumo" vor, einen Helikopterträger, mit 248 Metern Länge das größte Kriegsschiff des Landes seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Strategie, die ein solches Schiff verkörpert, unter einen "Verzicht auf Androhung oder Ausübung von Gewalt" zu fassen, dürfte keine leichte Aufgabe sein.
Ändern lässt sich die japanische Verfassung von 1946 zudem nur unter engen Voraussetzungen. Erforderlich ist eine Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Parlaments und Billigung durch Volksabstimmung – erreicht wurde diese Schwelle bislang nie. Kein Wunder also, wenn Politiker nach einem Wandel durch Umdeutung und klandestine staatsrechtliche Änderungen unterhalb dieses Niveaus suchen – albern die Empörung, denn sie scheinen den Weg längst gefunden zu haben.
Verfassungen als "Gegenentwürfe"
In seiner umstrittenen "Wunsiedel-Entscheidung" (v. 04.11.2009, Az. 1 BvR 2150/08) überraschte das Bundesverfassungsgericht mit einer Aussage, wonach das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Grundgesetz unter einem historischen Vorbehalt stehe, der daraus resultiere, dass die "Entstehung der Bundesrepublik Deutschland" als "Gegenentwurf" zur NS-Herrschaft zu verstehen sei. Diese Hintergrundmelodie hatte man bis dahin so deutlich nicht gehört.
Die japanische Rechtsordnung und Verfassungsrechtsgeschichte musizieren ein wenig anders. Dass die Verfassung von 1946 als ausdrücklicher Gegenentwurf zur vorangegangenen Staatsordnung zu lesen ist, dokumentiert die Verfassung selbst wiederholt und ausdrücklich, auch über die hierzulande allenfalls bekannte Kriegsverzichtsklausel hinaus. Zur Garantie der fundamentalen Menschenrechte heißt es etwa im Verfassungstext (Art. 97 Abs. 2): "Sie haben viele schwere Prüfungen ihrer Dauerhaftigkeit überstanden und sind dieser und künftigen Generationen als unverletzliche, ewige Güter anvertraut."
Im Vergleich mit der "Ewigkeitsklausel" des deutschen Grundgesetzes von 1949, das in nüchterner juristischer Verweistechnik unter anderem Menschenwürde und Föderalismusprinzip von einfachen Grundgesetzänderungen ausnimmt, ist das ein starkes Wort. Dass es zudem einen "Gegenentwurf" charakterisiert, stellt Artikel 99 der japanischen Verfassung klar, indem er unter anderem den Kaiser verpflichtet, "diese Verfassung zu achten und zu stützen".
Martin Rath, Recht exotisch: . In: Legal Tribune Online, 11.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9331 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag