2/2: Hochverrat als sozialdarwinistische Selektions-Leistung
Einen Vorgeschmack darauf, wie er sich als politischer und akademischer Wirbelwind betätigen würde, liefert in der ZStW 1913 Hans von Hentig (1887-1974) – zuvor durchs Staatsexamen gefallen, gleichwohl 1912 mit einer urheberrechtlichen Arbeit promovierter Jurist, nach dem Ersten Weltkrieg "Nationalbolschewist" und Hochverräter, Exilant in der Sowjetunion und in den USA.
Neben der Psychiatrie und der arbeitsteiligen Industriegesellschaft beschäftigt die Strafjuristen des Jahres 1913 ein Thema verschärft: Eugenik, damals auch synonym "Rassenhygiene" genannt. Von Hentig entfaltet ein Programm, wie die Einrichtungen der Strafrechtspraxis nach sozialdarwinistischen Kriterien als solche der Eugenik bewertet werden könnten: Er beklagt beispielsweise, dass das "Selektivmittel der Strafe" in "ziemlich beschränkter Weise am äußeren kriminellen Akt haften geblieben" sei, was keinen hinreichenden Druck auf das "gewohnheitsmäßige Verbrechertum" ausübe. Unfruchtbarmachung komme für geisteskranke Straftäter in Betracht. Damals hochmoderne Reformvorschläge wie die Strafaussetzung zur Bewährung begrüßt von Hentig nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sie zur "Verfeinerung des grob-mechanischen Ausleseprozesses" dienen könnten. Bei der Todesstrafe ist von Hentig kritisch: Hochverräter beispielsweise könnten durchaus zu einer wünschenswerten "Regenerationsfähigkeit unseres politischen Lebens beitragen".
Da stockt noch 100 Jahre später der Atem. Ein junger Kriminologe in spe hält Hochverrat für eine womöglich gute Sache, natürlich rein sozialdarwinistisch betrachtet. Die renommierte Strafrechtszeitschrift druckt es unzensiert. Hochverrat, das muss man wissen, war damals definiert als "Mord und der Versuch des Mordes, welche an dem Kaiser, an dem eigenen Landesherrn" verübt werden.
Näher an der Rechtspraxis bewegte sich derweil Géza von Hoffmann, österreichisch-ungarischer Vizekonsul in Chicago, der von der "Rechtsgiltigkeit der Sterilisierungsgesetze" in den USA zu berichten wusste, die in Sachen "Rassenhygiene" in deutschen Gelehrtenkreisen als vorbildlich wahrgenommen wurden. Eine ganze Reihe von US-Bundesstaaten, darunter auch bevölkerungsreiche wie New York und Kalifornien, kannten nicht nur Gesetze, die eine Heirat zwischen "Negern" und "Weißen" verboten, sondern traten auch mit der strafrechtlichen Innovation hervor, Kriminelle zu sterilisieren. Von Hoffmann lobt die juristische Arbeit der "American Breeders Association" ("breeder", dt. "Züchter"), die gutachterlich und in Musterprozessen entsprechende Sterilisationen gegen das Argument geschützt habe, eine "grausame und ungewöhnliche Strafe" zu sein.
Todesstrafe ist besser als lebenslanges Zuchthaus
Ein Dr. Ernst Schulze aus Hamburg-Großborstel hat sich in der Strafrechtswissenschaft des Jahres 1913 gleich mehrfach verewigt. Zum einen mit einem unfreiwillig komischen Beitrag, ebenfalls zur neumodischen Strafpraxis in den USA, in dem der deutsche Jurist Sterilisationen und Kastrationen rechtshistorisch munter verwechselt, um zu dem für die spätere Rechtsgegenwart leider zu optimistischen Schluss zu kommen, deutsche Mediziner würden sich lieber selbst töten, als an der zwangsweisen Sterilisation/Kastration fremder Menschen schuldig zu werden.
In einem weiteren Artikel führt Dr. Schulze die ungeheure Korruption der New Yorker Polizei vor, die sich an den strengen Alkohol-, Bordell- und Glücksspielvorschriften bereichere, und sich damit das 30-fache eines deutschen Facharbeiterlohns beschere. Allein die dummen New Yorkerinnen, die den Anblick strammer Soldaten nicht gewöhnt seien, ließen sich vom Anblick der "jungen und geschmeidigen" Beamten der berittenen Polizei enthusiasmieren.
Der erste Polizeibeamte, der in den USA hingerichtet wurde, stammte immerhin auch aus New York, Charles Becker (1870-1915). Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass dies ein Fehlurteil war. Vom deutschen Professor Wilhelm Höpfner, Göttingen, hätte der NYPD-Beamte allerdings wenig Tröstliches lesen können, in der ZStW 1913. Nachdem es beim Deutschen Juristentag 1912 eine Auseinandersetzung um die Todesstrafe gegeben hatte, merkte der Gelehrte an: Fehlurteile könne es bei der lebenslangen Freiheitsstrafe auch geben und wer ihre seelische Grausamkeit kenne, zöge die Todesstrafe vor.
Martin Rath, Aus der ZStW 1913: . In: Legal Tribune Online, 23.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8987 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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