Aus der ZStW 1913: Über Kastration und Korruption

von Martin Rath

23.06.2013

In jeder großen Justiz-Bibliothek findet sich dieses Werk. Es liest sich, als hätten sich der freundlich-biedere Humorist Loriot und der ängstliche Jurist Franz Kafka zusammengetan, um Geschichten zu schreiben, die den Horror-Experten Stephen King das Fürchten lehren: Die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft", 34. Band – Jahrgang 1913. Eine kleine Zeitreise von Martin Rath.

In seinem ziemlich gut verkauften Werk "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" erzählt der FAZ-Journalist Florian Illies von den mehr oder weniger ergreifenden Ereignissen in Kultur und Politik des letzten Jahrs vor dem Ersten Weltkrieg. Dass sich Franz Kafka schwertat, zu heiraten, und es bestenfalls auf eine unglückliche Verlobung brachte, wird da etwa ins Gedächtnis gerufen. Auch, dass Kaiser Wilhelm II. gerne mit Schiffen spielte, darf nicht vergessen werden – immerhin stolpern noch heute Bundespräsidenten darüber, dass sie sich zu freimütig über den Sinn der Streitkräfte äußern.

Die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" (ZStW) ist heute eine hochgelehrte juristische Fachzeitschrift – kaum gelesen, dafür aber ein Medium, in dem junge Strafrechtswissenschaftler ihre ersten Publikationsträume wahr werden sehen. Vor 100 Jahren las sich diese Zeitschrift noch viel erfrischender: ein possierlicher Humor wie von Loriot, voll Angst-Themen wie aus Kafkas Träumen – zudem mit viel deutschem Amerika-Interesse gefüttert.

Irrsinnsfragen zwischen Richter und Psychiater

Man darf sich den Heidelberger Psychiatrie-Professor Karl Wilmanns (1873-1945) als vorwitzigen Kopf vorstellen, immerhin wurde er 1933 entlassen, wohl weil er Hitler als Hysteriker und Hermann Göring als Morphium-Abhängigen bezeichnet hatte. Das war eine Ferndiagnose, die durchaus zutraf. In der ZStW des Jahres 1913 diskutierte der noch recht junge Klinikchef eine Frage, die zwischen Psychiatern und Juristen hoch umstritten war: Wie sollte mit medizinischen Gutachten im Strafprozess umgegangen werden?

In § 51 des Reichsstrafgesetzbuchs hieß es: "Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war."

Psychiatrische Gutachter verstanden diese Vorschrift zu Kaisers Zeiten so, dass es ihre Aufgabe nur sei, die "krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" als Tatsachenfrage zu beurteilen, während es im Strafprozess dem Richter überlassen bleibe, welche Schlüsse er daraus für die Rechtsfrage ziehen wollte, ob damit auch die "freie Willensbestimmung ausgeschlossen war".

Wilmanns dokumentierte dazu neun gerichtspsychiatrische Fallbeispiele, die verraten, warum das Thema vor 100 Jahren so drängte: Nicht wenige Angeklagte waren freizusprechen, weil bei ihnen "Gehirnerweichung" festgestellt wurde, ein vornehmer Ausdruck für die Folgen meist sexuell übertragenen Syphilis, damals kaum zu heilen und weit verbreitet. Der Psychiater zeigte, dass zwar Straftaten, die klar in einem solchen Wahn begangen wurden, von Juristen erkannt würden, es den nur rechtskundigen Richtern aber schwerfalle, bei weniger augenscheinlichen Geistesstörungen ohne gutachterliche Bewertung zu einem Urteil zu kommen.

Horror am Hochofen, Paranoia im Fachmagazin

Nachdem das Bundesarbeitsgericht im Herbst 2009 unkonventionelle Methoden einer Gewerkschaft im Arbeitskampf abgesegnet hatte, gab es in Juristenkreisen nicht wenige Stimmen, die im sogenannten Flashmob-Urteil (v. 22.09.2009, Az. 1 AZR 972/08) einen dramatischen Wechsel, ja eine Gefahr für den zivilisierten Umgang zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften in Kampfstimmung sahen.

Wäre da nicht der Dortmunder Stahlarbeiter Wyskowic, könnte man sich darüber amüsieren, dass Dr. Schmidt-Ernsthausen, Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Düsseldorf, schon 1913 unter dem Titel "Moderne Streikmethoden" einen ähnlichen Tonfall zum Untergang des Abendlands im kollektiven Arbeitsrecht fand. Schmidt-Ernsthausen machte seine juristischen Leser zunächst mit der großartigen Technik der modernen Stahlerzeugung vertraut. Eine wirklich anschauliche Darstellung einer komplexen technischen Anlage in einem juristischen Magazin – das liest man heute nicht oft. Im März 1911 war eine solche Anlage – partiell – bestreikt worden: Arbeiter im Bereich der hydraulischen und der Gebläse-Maschinen hatten die Arbeit niedergelegt, was in nicht bestreikten Betriebsteilen Folgen hatte: "Der Arbeiter Wyskowic wurde von der hohen Flamme des ausfließenden Eisens am ganzen Körper verbrannt und starb am nämlichen Tage."

Ein Strafprozess wegen fahrlässiger Tötung endete mit Freisprüchen. Schmidt-Ernsthausen kritisiert vor allem, dass die Delikte der Nötigung- und Erpressung – des Unternehmers wie der arbeitswilligen Arbeiter – nicht hinreichend geprüft worden seien. Das sei wichtig, weil die – von ihm zuvor so liebevoll geschilderte arbeitsteilige Fabrikation – so anfällig gegen partielle Arbeitsniederlegungen geworden sei: Hier legt ein Arbeiter die Elektrik lahm, dort werden 22 Tonnen Eisen wertlos.

Nur nebenbei verliert ein Arbeiter sein Leben. Die Nebensächlichkeit dieser Folge "moderner Streikmethoden" unterstreicht Schmidt-Ernsthausen, indem er ein weiteres Beispiel für die Verletzlichkeit arbeitsteiliger Fertigung gibt: 1912 hatten gewerkschaftsangehörige "Goldschnittmacher einer Gladbacher Gebetbücherfabrik bei einem Streik den arbeitswilligen Schnittmachern die zum Abreiben der Bücher nötigen Späne heimlich mit Seifenpulver vermengt" und ihnen damit "eine Woche lang jegliche Arbeit verdorben".

Die arbeitsteilige Industriegesellschaft, die in Deutschland so friedlich reguliert wurde – das scheint bei Schmidt-Ernsthausen allenthalben durch – sei von den wild-brutalen "französischen" Methoden bedroht.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Aus der ZStW 1913: . In: Legal Tribune Online, 23.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8987 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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