Rechtsgeschichten 1913: Ärzte in Freiheit und die Gefahren des Kinos

von Martin Rath

10.11.2013

2/2 Lustbarkeiten des polnischen Dia-Vortrags

Während sich die Reichsgerichtsräte in diesem Urteil immerhin bemühten, sich ja keine Blöße hinsichtlich ihres technischen Sachverstands zu geben, sondern vielmehr als moderne Köpfe zu zeigen - die Verteidigung habe schon recht, dass sich da einzelne Bilder zum Film zusammensetzen, doch das interessiere nicht vom Rechtsstandpunkt - verblüfft aus heutiger Sicht ein engstirnig strafwilliges Urteil zu "öffentlich veranstalteten Lustbarkeiten", einem Film- oder Dia-Vortrag (v. 21.11.1913, Az. IV 787/13).

Am 19. April 1908 trat nach langen Auseinandersetzungen das Reichsvereinsgesetz in Kraft, das neben dem Recht der Vereinigungen auch das der Versammlungen regelte. Es war dies ein politischer Kraftakt gewesen, weil eine reichsgesetzliche Regelung zwar in der Verfassung von 1871 angekündigt worden war, die bisher einzelstaatliche Praxis in Deutschland aber von Differenzen zwischen liberalen und – namentlich in Preußen – restriktiven Regelungen geprägt war. Noch auf Grundlage des Reichsvereinsgesetzes wurde beispielsweise Teilnehmern am Leichenzug eines verstorbenen SPD-Funktionärs das Mitführen einer roten Fahne zur Last gelegt, die aus der Feier eine nicht genehmigte Demonstration gemacht habe.

Im Amtsgerichtsbezirk des kulturell umkämpften preußischen Städtchens Schrimm – im polnischen Śrem steht heute noch ein grotesk-imperialer neoromanischer Wasserturm aus Kaisers Zeiten – hatte der polnische Volksleseverein zu einem Vortrag eingeladen. Als politische Veranstaltung schätzte der Verantwortliche dies selbst ein und hatte sie entsprechend bei der Polizei angemeldet. Im Anschluss an den Vortrag, der vom polnischen Freiheitskampf gegen die Zarenherrschaft 1863 handelte, waren jedoch "Lichtbilder vorgeführt" worden. Die preußische Polizei und das Reichsgericht monierten: "Eine Anzeige der Lichtbildervorführung unter gleichzeitiger Beifügung einer Beschreibung des Gegenstands in zwei gleichlautenden Abzügen, wie sie die Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten in P[osen] über öffentliche Veranstaltungen, Lustbarkeiten u. dgl. vom 21. Juni 1912 vorschreibt, ist nicht erfolgt."

Obwohl das Reichsvereinsgesetz, das für sich genommen schon restriktiv genug gehandhabt wurde, eine abschließende Regelung von Versammlungs- und Vereinsrechten beanspruchte, bestätigten Amts- und Reichsgericht die Verurteilung wegen Verstoßes gegen die Polizeiverordnung. "Lustbarkeiten", wie sie "Lichtbildvorführungen" auch im Rahmen von politischen Versammlungen darstellten, durften weiterhin landesrechtlichen Restriktionen unterworfen werden.

Ärztestreik 1913 - Vereinsfreiheiten

Im Vergleich zu ihren Kollegen vom vierten Strafsenat zeigten sich die Richter des vierten Zivilsenats regelrecht bemüht, der deutschen Ärzteschaft nicht im Kassen-Kampf in den Rücken zu fallen. Die Mediziner hatten es seinerzeit schon nicht leicht: Seit Einführung der Krankenversicherungspflicht der Arbeiterschaft 1883 hatten die Kassen erhebliche Marktmacht erlangt. Exklusive Verträge mit einzelnen Ärzten, mithilfe derer die Krankenversicherungen kostensparende Honorar- und Therapiebedingungen durchsetzten, waren zunächst die Regel.

Im Herbst 1913 spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Ärzten und den Krankenkassen dramatisch zu. Streikaktionen im Dezember 1913 sollten folgen, die erst endeten, als den kassenärztlichen Vereinigungen – ähnlich der seinerzeit schon anerkannten Tariffähigkeit der Gewerkschaften – Verhandlungsmacht in den Honorarverabredungen eingeräumt wurde. Ökonomisch gesprochen: Aus dem Nachfrageoligopol der Krankenkassen wurde das heutige beidseitige Oligopol von Krankenkassen und Ärztevereinigungen.

Wie aber organisieren sich Ärzte? Zur Arbeiterfaust wollten sich akademisch feine Medizinerhände damals ja nicht ballen. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) schuf hier ein Problem: Denn nach § 22 BGB ist die Rechtsfähigkeit sogenannter wirtschaftlicher Vereine – also von Vereinen, die einen Erwerbszweck verfolgen – von der Verleihung durch den Staat abhängig, damals der Bundesstaaten des Deutschen Reichs, heute der Länder.

Das Landgericht Zwickau hatte dementsprechend im Oktober 1912 die Löschung eines Vereins aus dem Vereinsregister angeordnet, weil sich in diesem - um es grob zu formulieren - Ärzte zur gemeinsamen Vermarktung ihrer kassenärztlichen Leistungen zusammengeschlossen hatten. Mediziner, die ihre Leistungen eigenständig an die Kasse verkauften, gerieten - um die Studentensprache dieser Zeit zu gebrauchen - in "Verschiss", wurden geächtet und vom Verein sanktioniert.

Gern vergessen: ärztliche Quasi-Gewerkschaften

Das Reichsgericht bahnte 1913 diesem durchaus geschäftstüchtigen Anliegen der Zwickauer Ärzte seinen Weg zum eingetragenen, nicht von der Gnade der Politik abhängigen Verein - und das mit fast schwärmerischen Worten über das Freiberuflerdasein: "Die moderne Entwicklung hat es … mit sich gebracht, daß auch die sogen. liberalen Berufe zu Erwerbszwecken ausgeübt werden und niemand nimmt daran Anstoß, wenn sich ihre Träger … die heutigen Errungenschaften des Verkehrs- und Wirtschaftslebens in einer mit der Würde und dem Ansehen dieser Berufe vereinbaren Weise zunutze machen."

Anders formuliert: Dass sich die Ärzteschaft nicht in scheußlich "roten" Gewerkschaften, sondern in gesitteten kassenärztlichen Vereinigungen zusammenschloss, hatte sie dem Reichsgericht zu verdanken, das ihr den Weg in die Vereinsregister öffnete (Beschl. v. 30.10.1913, Az. IV B 3/13).

Auf einer Suche nach einer Antwort auf die Frage allerdings, warum die Ärzte heute in kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts - nicht als "e.V." - organsiert sind, muss man in 20 Jahre jüngeren Reichsgesetzblättern nachschlagen. Mit Würde hat das dann nicht mehr viel zu tun: Eine "Verordnung über die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands" führte alle politisch genehmen Ärzte in einer Körperschaft zusammen. Die Ermächtigungsgrundlage, gezeichnet unter anderem von Hindenburg und Hitler, war dem NS-Staat offenbar so wichtig, dass das Gesetz per Rundfunk-Verkündung in Kraft gesetzt wurde (RGBl. I 1933, S. 97; 567). Der Hartmann-Bund, 1913 noch eine gewerkschaftsähnliche Organisation, stellte nun kraft Gesetz ab 1933 den "Reichsführer der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands".

An ihre gewerkschaftlichen Wurzeln, die nicht vom Reichsgericht, sondern erst vom NS-Staat gerupft wurden, erinnert sich die Ärzteschaft heute vielleicht deshalb nicht so gern, weil sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zum "e.V." zurückgekehrt ist - das Erbe der (Zwang-)Mitgliedschaften in Körperschaften öffentlichen Rechts ist ihr, wie anderen freien Berufen auch, erhalten geblieben.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: . In: Legal Tribune Online, 10.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9995 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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