Der Bundestagsabgeordnete Fritz Dorls (1910–1995) zählte zu den seltsamen Figuren in den unübersichtlichen Gründungsjahren der Bundesrepublik. Am 10. September 1953 entschied der BGH in einer gegen ihn anhängigen Strafsache wegen Betrugs.
Mit einer monatlichen Aufwandsentschädigung von 600,00 Deutschen Mark (DM) begann das Diätenrecht der Bundesrepublik Deutschland.
Nach der Bundestagswahl vom 14. August 1949 war der 1. Deutsche Bundestag am 7. September 1949 zu seiner ersten Sitzung zusammengetreten.
Durch das "Gesetz über die Entschädigung der Mitglieder des Bundestages" vom 15. Juni 1950 regelte das Parlament die mit seiner Arbeit verbundenen Einkünfte durchaus großzügig. Denn zur monatlichen Aufwandsentschädigung kam unter anderem die Zahlung von Tagegeld von 30,00 DM, das neben den Sitzungstagen auch für eine Vielzahl weiterer dienstlich veranlasster Anwesenheitstage fällig wurde. Außerdem übernahm die Bundeskasse noch allerlei weitere "Unkosten".
Die nackten Zahlen vermitteln vielleicht den Eindruck von Taschengeld-Beträgen. Er verflüchtigt sich, wenn man weiß, dass im Jahr 1950 ein Maschinenschlosser-Lehrling in einem guten Ausbildungsbetrieb 50,00 DM monatlich in der Lohntüte hatte.
Zu den nicht gesetzlich, sondern vom Bundestagspräsidenten und Ältestenrat erlassenen Regeln zur Kostenerstattung gehörte der Aufwand für die Fahrdienste, derer sich die Abgeordneten bedienten.
Nach dem Krieg war ein eigenes Automobil keine Selbstverständlichkeit, auch waren viele Abgeordnete recht alte Herren. Als der überdrehte italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) im Jahr 1909 im "Futuristischen Manifest" seinen Lobgesang auf das künftige ultra-moderne rasante Autofahren dichtete, hatte etwa ein Kölner Kommunalbeamter namens Konrad Adenauer seinen 33. Geburtstag schon hinter sich. Einen Führerschein soll er nie erworben haben.
Mit 15,00 DM war auch das Tagegeld, das die Bundestagsverwaltung den Abgeordneten für die Beschäftigung von Chauffeuren zahlte, recht großzügig bemessen.
Betrügerische Inanspruchnahme von Fahrer-Tagegeld?
Dem Bundestagsabgeordneten Dr. Fritz Dorls (1910–1995) und zwei Herren, die ihm angeblich als Fahrer gedient hatten, warf die Staatsanwaltschaft Bonn vor, Fahrer-Tagegeld in Höhe von insgesamt 2.475 DM – also für nicht weniger als 165 Dienst-Tage – in Anspruch genommen zu haben, ohne dass überhaupt bzw. durchgängig entsprechende Fahrleistungen erbracht worden seien.
Das Landgericht Bonn sprach die Angeklagten mit Urteil vom 24. November 1952 vom Vorwurf des Betrugs, § 263 Strafgesetzbuch (StGB), u. a. deshalb frei, weil ihnen nicht habe nachgewiesen werden können, dass ein im Dunklen bleibender dritter Fahrer die abgerechneten Leistungen erbracht haben könnte – dieser habe, so die Verteidigung, als "politisch Verfolgter nicht selbst in Erscheinung" treten wollen. Wenn dieser den Abgeordneten tatsächlich gefahren haben sollte, wäre ein Schaden nicht entstanden.
Mit Urteil vom 10. September 1953 hob der 2. Feriensenat des Bundesgerichtshofs (BGH) dieses Urteil auf und verwies die Sache zurück, weil die Bonner Richter ihrer Pflicht nach § 244 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) nicht entsprochen hatten, die Beweiserhebung auf alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken (Az. 2 StR 176/53).
Netzwerke alter Nationalsozialisten und ihre weitere Tätigkeit
Zu welchem strafprozessualen Ausgang dieser frühe Fall von parlamentarischer Spesenreiterei fand, liegt leider im Dunklen – doch umso deftiger bleibt, was an politischen und juristischen Befunden zum Abgeordneten Dorls zu erzählen ist.
Denn bald darauf ging es für ihn auf eine Flucht nach Ägypten, die möglicherweise gar keine war.
Neben einem Bundestagsabgeordneten, der sich Dr. Franz Richter nannte, tatsächlich aber Fritz Rößler (1912–1987) hieß, gehörte Dorls zuletzt der Sozialistischen Reichspartei (SRP) an. Beide SRP-Funktionäre waren vor dem europäischen Kriegsende am 8. Mai 1945 im nationalsozialistischen Schulungs- und Propaganda-Apparat tätig gewesen.
Dass die SRP, die sich unter den nicht wenigen radikal rechten Vereinigungen der jungen Bundesrepublik besonders deutlich in die ideologische und propagandistische Tradition der am 10. Oktober 1945 vom Alliierten Kontrollrat verbotenen NSDAP gestellt hatte, Gegenstand des ersten Parteiverbots durch das Bundesverfassungsgericht war (Urt. v. 23.10.1952, Az. 1 BvB 1/51), gehört zwar zur juristischen Grund- und zur politischen Allgemeinbildung.
Doch das Gewimmel zwischen alten Konservativen und noch jungen Nationalsozialisten, die keine mehr sein durften, ist nur schwer zu durchschauen – und es wird am Ende auch hier bei einem Vorschlag bleiben müssen, wie man es entwirren kann.
Organisationsnachfolge-Planung rund ums SRP-Verbot
Hier jedoch einige sachdienliche Hinweise: Der vorgebliche Dr. Richter und sein Kollege Dorls waren nicht auf einen Wahlvorschlag der SRP, die erst nach der ersten Bundestagswahl gegründet worden war, ins Bonner Parlament eingezogen, sondern durch ein Wahlbündnis der "Gemeinschaft unabhängiger Deutscher" mit der Deutschen Konservativen Partei/Deutschen Reichspartei. Eine 5-Prozent-Hürde gab es noch nicht.
Nach der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1952, dass die SRP verfassungswidrig, ihre Organisation verboten ist und ihre Mandate verfallen seien, musste aufgrund der verqueren Beitritts-, Austritts- und Machtkampfverhältnisse im extrem rechten Lager zunächst der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages ermitteln, ob Dorls zuletzt der SRP noch angehört hatte – erst danach stellte der Deutsche Bundestag mit Beschluss vom 3. Dezember 1952 fest, dass sein Mandat erloschen sei.
Das Bonner Betrugsverfahren wird im Herbst 1952 noch die geringste Sorge des Abgeordneten Dorls gewesen sein. Denn mit Blick auf das sich abzeichnende Parteiverbot bemühte er sich in diesen Wochen, die schon bestehende "Deutsche Gemeinschaft" des vormaligen CSU-Mitglieds August Haußleiter (1905–1989) als SRP-Nachfolgeorganisation nutzbar zu machen. Gemeinsam war den Gruppen rechts von CDU, CSU und FDP, rechts auch vom seriöseren Teil der Deutschen Partei (DP), vor allem die Opposition gegen die Westbindungspolitik Konrad Adenauers und der Wunsch nach einem neutralen Deutschland zwischen den Blöcken. Das war durchaus nicht unpopulär.
Erfolgreich um die entsprechende Wählerschaft bemühten sich nach dem SRP-Verbot jedoch die anderen Parteien nicht nur des radikal rechten oder sogenannten bürgerlichen Spektrums – so machte etwa auch der spätere SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918–2015) beim Veteranenverband der Waffen-SS 1953 seine Aufwartung. Im parteipolitischen Raum entsprach diesem Bemühen der Kampf um die oft jungen Wähler der regional recht beliebten SRP – zur Landtagswahl in Niedersachsen, 1951, hatte diese Partei allein im Raum Lüneburg circa 120 Veranstaltungen mit jeweils bis zu 1.200 Teilnehmern organisiert.
Am Stück wurde die SRP-Klientel von keiner Partei übernommen, trotz des Kontakts zwischen Dorls und Haußleiter. Letzterer sollte erst wieder 1986 in ein Parlament einziehen – als Abgeordneter der ersten bayerischen Landtagsfraktion der "Grünen", die damals auch für das antiwestliche Erbe deutscher Neutralitätssehnsüchte standen.
Kontakte jenseits der großen Öffentlichkeit
Wäre es vorstellbar, dass heute ein Bundesjustizminister Marco Buschmann (1977–) das diskrete Gespräch mit, sagen wir, Björn Höcke (1972–) sucht, um diesem Gelegenheit zu geben, eine mögliche Verfassungsfeindlichkeit der selbsternannten "Alternative für Deutschland" zu widerlegen?
Zwischen FDP-Bundesjustizminister Thomas Dehler (1897–1967) und Fritz Dorls gab es 1950 eine entsprechende Unterredung. Betrachtet man es nicht durch die moralische Brille, ist das vielleicht verhandlungs- bzw. spieltheoretisch zu erklären.
Denn das besondere Verfahren zum (Vereins-) Verbot einer politischen Partei nach Artikel 21 Abs. 2 GG, §§ 43, 46 Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG), sieht, anders als der Strafprozess mit § 153a StPO, die Option einer Einstellung gegen Auflagen und Weisungen nicht vor. Für die Sanktion heißt es also formal: ganz oder gar nicht.
War es offen nicht möglich, wurde eben heimlich darüber gesprochen, wie ein Verbotsverfahren mit seinen politischen und juristischen Risiken vermieden werden konnte – ähnlich geschah es später mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), die 1968, nur zwölf Jahre nach dem KPD-Verbot, als Nachfolgeorganisation hätte behandelt werden müssen.
Nach dem SRP-Verbot wich Dorls nach Spanien aus, um einer Strafverfolgung zu entgehen, wie es heißt. Hier wurde er geschäftlich für einen früheren Posterboy der NS-Propaganda, Otto Skorzeny (1908–1975), tätig. Wie valide die Geschichte von der Auslandsflucht ist, lässt sich schwer beurteilen, denn die parlamentarische Immunität war schon vor dem SRP-Verbot aufgehoben worden, nachdem Dorls in sehr boshafter Weise den bayerischen Innenminister und früheren SPD-Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (1897–1980) beleidigt hatte. Freilich tauchte Dorls zwischenzeitlich in Ägypten auf, wo er – mit Kontakten zum Bundesamt für Verfassungsschutz – die Kreise eines deutschen Kaufmanns stören sollte, der die außenpolitischen Interessen der Regierung Adenauer gefährdete.
Zum Wimmelbild rechtsextremer bis (links-) nationalistischer Akteure gehört, dass am Spiel um die Organisation jener politischen Kräfte, die sich mit einer zu westlichen und zu amerikafreundlichen CDU/CSU nicht anfreunden mochten, vor und nach dem SRP-Verbot auch Figuren wie Wilfried von Oven (1912–2008) mitwirkten, vormals ein enger Mitarbeiter von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945). Oven wurde seit 1951 vom "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein (1923–2002) beschäftigt, zudem vom Bundesnachrichtendienst.
Man möchte fast die Hufeisentheorie anwenden
Ein Blick in den Stenographischen Bericht des Deutschen Bundestags erhöht die Kenntnis staunenswerter Wimmelbildelemente. Zum Beispiel: In seiner 175. Sitzung, am 15. November 1951, beriet das Parlament über einen Antrag der Bayernpartei (BP), der die Entschädigung jüdischer Deutscher betraf, die vor 1945 durch "Arisierung" ihr Eigentum verloren hatten.
Nachdem der BP-Abgeordnete Hermann Etzel (1882–1978) die wirtschaftlichen Folgen einer Entschädigung für die nichtjüdischen neuen Besitzer beklagt hatte – Etzel sollte später übrigens zu den Gründern des stramm linken, von der SED-Diktatur bis 1989 kofinanzierten Magazins "Blätter für deutsche und internationale Politik" gehören – hielt der unter dem falschen Namen "Dr. Richter" agierende SRP-Politiker Fritz Rößler eine scharf antisemitische Tirade gegen Israel, in der er das Schicksal deutscher und arabischer Flüchtlinge gleichsetzte. Ähnliche Aussagen sollte man 20 Jahre später im Umkreis der "Rote Armee Fraktion" finden.
Es lässt sich hier nicht alles entwirren, es muss bei diesem Blick aufs Wimmelbild bleiben. Wer sich tiefer einlesen möchte, kann beispielsweise mit der Dissertation von Beate Baldow: "Episode oder Gefahr? Die Naumann-Affäre" (2012) beginnen, die den Versuch behandelt, die FDP zur Plattform von NSDAP-Funktionären zu machen.
Vielleicht hilft es heute dabei, Verschwörungsdenken zu vermeiden, wenn man sieht, wie viel Tradition seltsame Figuren der deutschen Politik haben.
Rechtsextreme im Bundestag: . In: Legal Tribune Online, 10.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52665 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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