Seite 2/2: Zeitnot kann zu juristischer Pathologie beitragen
Zeitnot als Problem der juristischen Professionen wird hierzulande für sich genommen eher selten thematisiert. Meist ist es eher praktisch bis lustig, wenn – wie in Nürnberg – Richter von Faxgeräten träumen, die von einer Atomuhr ferngesteuert werden, statt von gescheiten elektronischen Akten.
In den wirklich dramatischen Fällen wird hingegen ein – auch an Zeitnot gescheiterter – Kollege ausgegrenzt und durch strafrichterliches Urteil sozial vernichtet: Als das Landgericht Stuttgart am 14. November 2008 einen Richter wegen Rechtsbeugung zu drei Jahren sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte (Az. 16 KLs 180 Js 10962/06; BGH, Beschl. v. 24.6.2009 Az. 1 StR 201/09) war – verständlicherweise! – viel von der Schändlichkeit seines Verhaltens die Rede, ohne die vorgeschriebenen Anhörungen Menschen durch Unterbringungsbeschlüsse ihrer Freiheit beraubt zu haben. Auf den jedenfalls diskussionswürdigen Aspekt seiner Verteidigung – ständige Zeitnot im Richteramt – kam, soweit erkennbar, die juristische Presse nicht zurück. Eher überwog die Befriedigung, dass hier auch einmal einer Krähe beide Augen ausgehackt wurden.
Die Schweizer Forschung ist – trotz der Vorläufigkeit ihrer Ergebnisse – deshalb kaum hoch genug zu loben, weil sie auch Aufschluss über die Zusammenhänge zwischen Zeitnot und moralisch problematischem Verhalten geben könnte. Das ist zwar keine ganz neue Fragestellung, doch hält Revital Ludewig-Kedemi fest, dass die Richterschaft, wie wohl auch die anderen juristischen Professionen, als Gegenstand rechtspsychologischer Untersuchungen bis in die 1990er-Jahre weitgehend vernachlässigt worden sei.
Juristische Dromologie als ernstes und unernstes Anliegen
Man darf vermuten, dass sich Richter, Staats- und Rechtsanwälte nicht mit den üblichen Untersuchungsgegenständen der Rechtspsychologie gemein machen lassen wollen – klassische Studien befassen sich ja eher mit Kriminellen und Querulanten.
Abhilfe könnte ein neuer Forschungsansatz bringen, der Phänomene des menschlichen Lebens konsequent unter dem Gesichtspunkt ihrer Geschwindigkeit betrachtet. Erfunden hat diese Sicht der Dinge der französische Philosoph Paul Virilio (Jg. 1932) als sogenannte "Dromologie". Der Begriff leitet sich ab aus "dromos" (gr. Rennbahn) und "logos" (gr. Wissen). Der Ansatz beansprucht, alle erdenklichen sozialen Felder – Technik, Medien, Militär – unter dem Gesichtspunkt ihrer zunehmenden Beschleunigung zu beschreiben.
Auf den ersten Blick ist das eine typische Franzosenphilosophie, leicht esoterisch und schwer feuilletonistisch. Wenn aber eine juristische Dromologie, also eine Betrachtung aller Dogmatik und Rechtspraxis unter dem Gesichtspunkt ihrer Geschwindigkeit dazu führen würde, sich im besten Sinn "un-verschämt" den psychologischen Pathologien der Zeitnot zu nähern, würde sie einen guten Dienst tun.
Bereiche, die mit moderner Methodik zu untersuchen wären, finden sich leicht. Der Bielefelder Bildungspsychologe Rainer Dollase verfolgt beispielsweise auf nicht-juristischem Gebiet sogenannte "temporale Muster", mit denen nicht nur "stechkartenmäßig" reale Handlungsabläufe in sozialen Organisationen erfasst werden, sondern auch "hypothetische, gewünschte oder ideale" Vorstellungen, die sich der Mensch von seinem Umgang mit der Zeit macht. Grob formuliert wird die "objektive" Zeiteinheit, wiedergegeben durch Uhr oder Kalender, mit dem subjektiven Empfinden – einem Leidens-, Erholungs-, Lern- oder anderen Nutzwert – ab- oder hochdiskontiert. Auf eine größere Zahl empfindender Menschen bezogen ergibt das sinnvolle Erkenntnisse.
Ein profanes Beispiel für "temporale Muster" ist die Akzeptanz von studentischen Stundenplänen: Ein kaum zu bewältigendes Studienprogramm von 20 Wochenstunden wird – statistisch nachweisbar – irrational schnell akzeptiert, wenn die 20 Stunden ohne größere Pausen in „Blöcken“ angeboten werden. Ein sinnvolleres Studienprogramm von 14 Wochenstunden verliert, weil es nicht in Zeitblöcken strukturiert wird.
Praktischer Nutzen und wilde Ideen
Unschwer auf den richterlichen Alltag zu übertragen ist die relativ freie Zeiteinteilung von Professoren. Weil die Freiheit der Zeiteinteilung das "temporale Muster" vermutlich bei Richtern wie Professoren stark "idealisiert", lässt sich gegen mögliche Ineffizienz schwer gegensteuern. Eine undogmatische Perspektive könnte hier zu erkennen helfen, wie weit sich das Ideal der Unabhängigkeit real in der Zeitnutzung ausdrückt.
Um zum Schluss aber noch einmal etwas unernst zu werden: Die dogmatische Betrachtung des Nürnberger Faxgeräts führt zu einem verbindlichen und vermutlich auch zu einem guten Ergebnis. Eine "dromologische" Analyse könnte den Blick aber dramatisch erweitern: Vielleicht trüge es ja zur Effizienz und zur Zufriedenheit aller Prozessbeteiligten bei, würden verspätete Berufungsbegründungen nicht harsch verworfen, sondern Fristverlängerungen überhaupt nur dann genehmigt, wenn der Anwalt dies in persönlicher Vorsprache und mit einem kalligraphisch gefertigten Schriftsatz, ein Blatt DIN A 4, begründen müsste. Ein Versuch in "slow justice" ließe sich ja in einem OLG-Bezirk mal machen.
Doch Spaß beiseite. Der kommende Sonntag ist der erste Advent. Wetten, dass das "temporale Muster" wieder einmal sagt: Bis Weihnachten ist ja noch viel Zeit und das Abarbeiten des Fristenbuchs macht auch gar keine Probleme?
Martin Rath, Geschwindigkeit in der Juristerei: . In: Legal Tribune Online, 25.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7629 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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