Geteiltes Deutschland: Wie der Mau­erbau die Recht­sp­re­chung beschäf­tigte

von Martin Rath

13.08.2023

Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Während die Tötungsdelikte an den innerdeutschen Grenzanlagen in Erinnerung blieben, sind weitere juristische Sachverhalte der deutschen Teilung verblasst.

Für eine bis in die Gegenwart anhaltende Auseinandersetzung mit den Gewaltverbrechen an der innerdeutschen Grenze hat der habilitierte Jurist und sozialdemokratische Politiker Gustav Radbruch (1878–1949) gesorgt, der von ihr noch nicht viel wissen konnte.

Zwar ist Radbruch seinen nachgeborenen Kollegen meist eher dem Namen nach bekannt als durch das Studium seiner rechtsphilosophischen Werke aus der Zeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Doch bot die berühmte "Radbruch'sche Formel" in den 1990er Jahren erneut Stoff für den Streit unter Juristen – nicht nur auf den Gipfeln professoraler Dogmatik und höchstrichterlicher Rechtsprechung, sondern bis hinab in die Niederungen studentischer Erfrischungsraumgespräche dazu, wie mit den Todesschützen an der Mauer und ihren Befehlshabern zu verfahren sei.

Der Berliner Richter Hansgeorg Bräutigam (1937–) hielt sich in einem Versuch, den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit den Tötungsdelikten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze zu bilanzieren, im Jahr 2004 vorsichtig an ein Wort des noch jungen Heribert Prantl (1953–), der 1993 bescheiden von einem "Lernprozess" im juristischen Umgang mit der DDR-Regierungskriminalität gesprochen hatte.

Die Lektion, dass das positive DDR-Recht nicht vor Strafe schützte, hatte man Menschen getötet oder verletzt, sie töten oder verstümmeln lassen, weil sie die Grenze der DDR überschreiten wollten, war 2004 bereits gelernt. 

Sich nun mit Umständen der deutschen Teilung zu befassen, die weniger brutale Konsequenzen hatten, ist also keinem Mangel an Respekt zuzuschreiben – und wem es an intellektueller Neugier für das SED-Unrecht fehlt, dem sichert bekanntlich der Gesetzgeber zu, dass künftige Juristinnen und Juristen im Staatsexamen ein Lied auch davon singen können: § 5a Abs. 2 S. 3 Deutsches Richtergesetz.

Der Fall eines kommunistischen FDP-Spitzenpolitikers aus Franken

Ein mittelständischer Unternehmer, der auf dem Kurs war, zu einer ganz großen Nummer in der deutschen Foto-Industrie zu werden, tat das Übliche, um sich in seiner Partei beliebt zu machen: Er bezahlte dem Kreis- und Bezirksverband der FDP in Nürnberg die Mieten ihrer Geschäftsstellen und bot Schreibkräfte aus seinem Unternehmen auf, die FDP-Politikern zur Hand gingen. Auch stellte er ihnen Fahrzeuge und Benzin für ihre Wahlkampfreisen zur Verfügung.

Nach einer Steuerstrafsache, die im Jahr 1964 für ihn glimpflich endete, stand der Nürnberger Druckerei- und Fotografie-Unternehmer Hannsheinz Porst (1922–2010) seit 1967 erneut im Fokus strafrechtlicher Untersuchungen.

Am 8. Juli 1969 (Az. 6 StE 2/68) verurteilte ihn der Bundesgerichtshof (BGH) wegen "verräterischer Beziehungen" zum DDR-Ministerium für Staatsicherheit nach §§ 100e, 99 Strafgesetzbuch (StGB) zu zwei Jahren und neun Monaten Gefängnis sowie zu einer Geldstrafe von 10.000 Deutscher Mark.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Porst mit einem aus dem KZ Dachau befreiten, mit ihm brüderlich befreundeten Kommunisten auch in Kontakt geblieben, nachdem dieser in die sowjetisch besetzte Zone (SBZ), die spätere DDR, übergesiedelt war. Bei der Leipziger Messe, später in Berlin (Ost), traf man sich wieder. Zu ihren hochfliegenden Gesprächen kam noch Markus Wolf (1923–2006) hinzu, der intellektuell alerte Leiter der DDR-Auslandsspionage. Seit 1955 war Porst zugleich Mitglied der FDP in der Bundesrepublik und Kandidat zur Mitgliedschaft in der SED.

Sein sozialer Status als Druckerei- und Fotografie-Unternehmer und seine materielle Hilfe für die FDP öffneten Porst den Zugang zu höheren Kreisen dieser Partei. Dort gewonnene Informationen gab er an seine kommunistischen Freunde weiter.

Wie mit der DDR umgehen?

Über die Frage, wie mit der DDR umzugehen sei, wurde in den 1960er Jahren derart heftig gestritten, dass heutige, an sensibilitätsgerechten Massenmedien Interessierte reihenweise der Ohnmacht nahekämen. Denn bald 20 Jahre nach Kriegsende diskutierte man nicht nur in der SPD oder im liberalen Flügel der CDU mit dem verstockten CDU-Flügel über eine Neuorientierung in der Ostpolitik. In der FDP bildeten unter anderem Ausarbeitungen von Wolfgang Schollwer (1922–2021) eine interne, reichlich kontroverse Gesprächsgrundlage, wie von der sog. Hallsteindoktrin des Juristen Wilhelm Grewe (1911–2000) fortzukommen sei, die eine Anerkennung der DDR verpönte.

Die online rund 50 Seiten starke Entscheidung des BGH in der Strafsache Porst und Genossen - angeklagt waren noch zwei weitere Ost-Kontaktleute aus seinem Kreis - liest sich wie ein etwas überdrehter Politik-Thriller, der alles hat: die zynischen Machiavellisten des DDR-Sicherheitsapparats, idealistische, politisch dilettierende Unternehmer aus dem Westen, eine politische Justiz, die entsprechende Kontakte über Mauer und Stacheldraht hinweg zu beurteilen hatte.

Schade, dass solche Geschichten heute kaum noch fürs Fernsehen verfilmt werden.

Erst die Mauer macht klar, wie es um die Ehe steht?

Nicht nur auf den eingerichteten und ausgeübten Staatsbetrieb der Bundesrepublik Deutschland, sogar auf Scheidungssachen konnte sich die deutsch-deutsche Teilung auswirken.

Ein Blick in die Statistik zeigt, wie fundamental die Liberalisierung des Ehescheidungsrechts Ende der 1970er Jahre war. Während der 1960er Jahre bewegte sich die Zahl der Scheidungen in Westdeutschland zwischen 50.000 und gut 72.000 pro Jahr. Ein Jahrzehnt nach der Reform, 1989, lag sie bei über 126.000. Die Scheidungsrate, also das Verhältnis zwischen der Zahl neu geschlossener und geschiedener Ehen, lag 1960 bei knapp 10,7 Prozent – im Jahr 2021 bei 39,9 Prozent.

Belegt ist damit, wie fundamental das alte Scheidungsrecht die Leute bei ihrem Wort hielt. Wer es brechen wollte, musste in der Regel das Verschulden des Gatten beweisen. In seiner Rechtsprechung der 1950er Jahre hatte der Bundesgerichtshof den lebenslangen und nachgerade sakralen Charakter auch des zivilrechtlichen Eheversprechens derart pathetisch beschworen, dass den Tatsacheninstanzen im Zweifel eine sehr gründliche Prüfung aufgegeben war, ob ein zur Beendigung der Ehe hinreichendes Verschulden vorlag.

In einer Sache, über die der BGH mit Urteil vom 25. Juni 1969 (Az. IV 727/68) entschied, hatte die deutsch-deutsche Teilung dazu beigetragen, die äußeren Verhältnisse der Ehe zu klären und damit die Verschuldensfrage in den Hintergrund treten zu lassen.

Den scheidungswilligen Mann, einen ehemaligen NSDAP-Funktionär auf lokaler Ebene, hatte die amerikanische Besatzungsmacht nach 1945 für drei Jahre, zuletzt in Darmstadt interniert. Seine Frau – sie hatten 1925 geheiratet – war mit den Kindern in Thüringen geblieben, das zwar von der US-Armee befreit, aber der sowjetischen Besatzungsmacht alsbald überlassen worden war.

Vor dem Hintergrund der "allgemeinen Verhältnisse", also der Trennung beider deutscher Staaten (wenngleich die SED-Diktatur im Westen ungern als Staat bezeichnet wurde), mochte es der BGH hier nicht als rechtsfehlerhaft sehen, dass eine Scheidung wegen Zerrüttung der Ehe ausgesprochen wurde. Die innerdeutsche Grenze bewahrte die Scheidungswilligen davor, noch in naturrechtlicher Manier darauf geprüft zu werden, ob nicht doch ein Verschulden im Spiel war.

Beamtenrechtliche Alimentierung wird eigentumsähnlich

Nach einem hässlichen Vorspiel in den 1930er Jahren wuchs der deutsche Beamte erst seit den 1950er Jahren aus einem vielfach prekären sozialen und rechtlichen Status heraus.

Briefzusteller und Bahnarbeiter im Beamtenstatus waren oft kinderreich und arm, wofür noch bis in die 1960er Jahre eine überraschend große Zahl von disziplinarrechtlich verfolgten Vermögensdelikten spricht.

Unter Juristen der 1950er Jahre war zudem noch die Erinnerung wach, dass die Alimentation von Beamten während der Weimarer Republik krass nach Kassenlage eingeschränkt worden war. Erst die Bundesrepublik brachte das großzügige Tauschgeschäft einer neu gefassten beamtenrechtlichen Treue und einer substanzielleren sozialen Ausstattung der Staatsdienerschaft.

Eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. November 1964 (Az. VI C 118.61) lässt sich auf den ersten Blick vor allem als Fußnote zu diesem staatspersonalpolitischen Tauschgeschäft lesen.

Bereits im Jahr 1946 war die Klägerin verwitwet, ihr Gatte war zuletzt als Beamter beim Finanzamt Berlin Hallesches Tor tätig gewesen, nunmehr Berlin (West).

Nach dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen erhielt sie einen beamtenrechtlichen Versorgungsbeitrag, dann auch dem Anspruch nach Witwengeld zugesprochen.

Jedoch wurde das Ruhen dieser Bezüge unter anderem nach § 127 Abs. 4 Deutsches Beamtengesetz (DBG 1950) für den ganzen Bewilligungszeitraum seit 1952 angeordnet und eine Überzahlung errechnet, weil sie bis zum Bau der Berliner Mauer noch als Angestellte am Städtischen Krankenhaus von Pankow in Berlin (Ost) arbeitete.

Mit Blick auf die Geschichte der beamtenrechtlichen Versorgung und ihrer rechtsdogmatischen Absicherung ist zwar interessant, wie das Bundesverwaltungsgericht – wie auch das Bundesverfassungsgericht – die rückwirkende Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers über einmal vom ihm in die Welt gesetzte Versorgungsansprüche beschnitt. Das will hier aber nicht weiter diskutiert werden.

Denn im Zusammenhang mit der deutsch-deutschen Teilung fällt ein anderes Detail ins Auge: Während nach § 127 Abs. 4 DBG die Tätigkeit für eine inländische deutsche Behörde ohne Weiteres dazu führte, Versorgungsbezüge aus Witwerschaft ruhen zu lassen, führten sonstige Bezüge, z. B. in der privaten Wirtschaft, nur zu einer entsprechenden Anrechnung auf die Witwen-Alimentation.

Hierzu hatte das Bundesverwaltungsgericht bereits 1959 entschieden, dass die "Beschäftigung bei einer öffentlichen Körperschaft oder einem Unternehmen der öffentlichen Hand im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands keine Verwendung im öffentlichen Dienst" im Sinn dieser Vorschrift sei.

Damit musste sich die Witwe zwar anrechnen lassen, was sie als Angestellte im Krankenhaus Pankow verdiente, doch ruhte ihr Versorgungsanspruch wegen der Tätigkeit ihres verstorbenen Gatten im Kreuzberger Finanzamt nicht gänzlich.

Feiner juristischer Zungenschlag und großes Drama

Zwar ist normalsterblichen Menschen ohne die doppelt examinierte Denkungsart der feine Zungenschlag der juristischen Auslegungskunst meist fremd. Doch ganz ausschließen möchte man nicht, dass sogar die Rede von der "sogenannten" DDR auch eine versorgungsrechtliche Parallelwertung in der Laiensphäre enthielt: Es konnte gutes Geld wert sein, dass der öffentliche Dienst in der DDR nur ein "sogenannter" öffentlicher Dienst blieb. Menschen wie die Westangestellte im Ostkrankenhaus mussten dafür ein Ohr haben.

Es wird sich zeigen müssen, ob von der Auseinandersetzung mit dem SED-Unrechtsstaat in der Juristenausbildung mehr übrig bleiben wird als das große ethisch-juristische Dilemma der Radbruch'schen Formel. Wie fein das Gehör für Details der juristischen und politischen Sprache geschult sein will, darüber lässt sich streiten.

Dass die politisch-juristischen Skandale der alten Bundesrepublik – etwa der FDP-Verratsfall des SED-Genossen Hannsheinz Porst – kaum präsent sind, während beispielsweise zur britischen Prufomo-Affäre noch heute sogar Comics gezeichnet werden, ist bedauerlich. Es fehlt dann an Vergleichsmöglichkeiten, wenn sich Politiker in der Gegenwart auf Abwege geraten.
 

Zitiervorschlag

Geteiltes Deutschland: . In: Legal Tribune Online, 13.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52472 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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