Scham und Schamlosigkeit als juristische Regulative
Krimphove zeigt sich verwundert, dass Scham als rechtstheoretisches Thema bisher kaum eine Rolle gespielt habe und behauptet, dass dieses Phänomen im Strafrecht ein "rechtssoziologisches Tabuthema" sei – dergestalt, dass auch ein modernes Strafrechtssystem nicht effektiv sein könnte, ohne dass Verurteilte das Gefühl der Scham aufbrächten.
Auf der anderen Seite regt Krimphove an, ein "Bedauern des Täters angesichts seiner Tat und ihrer Folgen" zu den Strafzumessungsgesichtspunkten des § 46 Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) hinzuzufügen.
Eine weitere Möglichkeit, die Entdeckung der Scham als juristisch relevantes Phänomen positivrechtlich auszumünzen, zieht der Professor aus der Beobachtung, dass gesellschaftliche Anonymität oft Schamlosigkeit befördere. Daher seien "der Gesetzgeber und die Rechtsprechung gefordert, die Aufhebung der Anonymität, das heißt die Erkennbarkeit des Verfassers [insbesondere im Internet] – gleichberechtigt neben dem Datenschutz und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung – zu gewährleisten".
Mitgefühl – eine juristische Entscheidungsgröße
Krimphoves Aussatz wirft – trotz der bodenständigen Herangehensweise, die man in der eher esoterischen Zeitschrift "Rechtstheorie" selten findet – jedoch mehr Fragen auf, als er beantwortet. So mag es eine Leistung modernen Prozessrechts sein, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn das Schamgefühl von Prozessbeteiligten Vorrang vor dem Kontrollinteresse des – bestenfalls in Journalisten- und Rentnergestalt anwesenden – Souveräns hat. Allein, bleiben Richter, Rechts- und Staatsanwälte emotional unbeschädigt, wenn sie regelmäßig in den schambesetzen Angelegenheiten fremder Menschen zu wühlen haben? Oder sind sie von Natur aus schamlos?
In welchem Maß Richter nur Menschen sind, belegt hingegen eine Studie, die Jill D. Weinberg und Laura Beth Nielsen unter dem Titel "Examining Empathy: Discrimination, Experience, and Judical Decisionmaking" in der Southern California Law Review (2012 [83], S. 313-352) vorstellen.
Als sich der U.S. Supreme Court vor bald zehn Jahren im Fall "Virginia v Black" mit der Frage beschäftigte, ob das Verbrennen von Kreuzen durch Vertreter des Ku Klux Klans von der Redefreiheit des 1. Zusatzartikels zur US-Verfassung geschützt sei, geschah in der mündlichen Verhandlung etwas Ungewöhnliches. Aus Clarence Thomas, einem Richter, der dafür bekannt ist, praktisch nie auch nur ein Wort während der Verhandlungen zu äußern, brach geradezu die aggressive Frage an den Regierungsanwalt heraus, ob dieser sich überhaupt bewusst sei, welch terroristischen Charakter die Kreuzbrände und die Lynch-Justiz in den US-Südstaaten gehabt hätten.
Weinberg und Nielsen unterstellen, dass Thomas' Biografie – geboren wurde der afroamerikanische Richter 1948 in Georgia, zu Zeiten gesetzlicher Rassentrennung und strafloser Gewalt gegen "Neger" – seine Haltung bestimmte: Er vertrat am Ende die Mindermeinung, wonach Kreuzverbrennung kein Ausdruck der Redefreiheit sei. Sie belegen empirisch auf breiter Basis, dass der persönliche Hintergrund – sie untersuchen die ethnische Herkunft – in bürgerrechtlich geprägten Arbeitsrechtsprozessen eine statistisch relevante Rolle spielt, zu vergleichen mit dem Wert qualitativer anwaltlicher Vertretung.
Gefühlsarbeit mit unguten Gefühlen
Explizite Auseinandersetzungen mit dem Gefühlsleben der Juristen finden sich nun leider nur in entlegenen Zeitschriften wie der esoterischen "Rechtstheorie" oder der "Southern California Law Review". Kein gutes Gefühl, das nicht nachzulesen.
Für den Hausgebrauch und womöglich mit der Hauspost geliefert findet sich indes in der aktuellen Ausgabe der "Juristenzeitung" (2012, 723-728) ein nach Empathie heischender Artikel: "Grenzen normativer Auslegung im Strafrecht" überschreibt der Hamburger Professor Frank Salinger die Dokumentation eines Vortrages, der auch im Druck von der rhetorischen Form profitiert. Salinger greift drei Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH) auf, in denen die BGH-Richter sich durch eine "normative" Auslegung von Straftatbeständen weit vom gefühlten Alltagsverständnis der Begriffe entfernt hatten: Wie kann es etwa sein, dass ein Erpressungsopfer, das seinem Erpresser überraschend die Kehle durchschneidet, nicht dessen Arglosigkeit ausnutzt? Darf Arglosigkeit so normativ verformt werden, wie es der BGH am 12. Februar 2003 tat (1 StR 403/02)? Salinger äußerte in seinem Vortrag jedenfalls Unbehagen, und für einen Rechtswissenschaftler tat er dies deutlich.
Wenn "Laien" sich darüber aufregen, dass die Gerichte etwas entschieden, was "so nicht im Gesetz" steht – den Gesetzestext also lesen wie der Bibelfundamentalist seine heilige Schrift –, ist man schnell dabei, diese Gefühlsregung beiseite zu schieben. Das von Salinger formulierte Unbehagen ist damit entfernt verwandt. Es ohne ausführlichen dogmatischen oder subsumtiven Beweis zu äußern, zeigt, wozu Regungen aller Art oft dienen: der frühen Warnung, auf die längere Debatten noch folgen können.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6814 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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