Juristen sehen ihre Profession ja gern als nüchterne Kunst an. Umso mehr überrascht es, wenn in rechtwissenschaftlichen Zeitschriften die Macht der Emotionen mehr oder minder analytisch bearbeitet wird. Dreieinhalb Artikel zur juristischen Gefühlsarbeit, vorgestellt von Martin Rath.
Das Grundgesetz beginnt mit Pathos. Doch vielleicht müsste man sich heute wenigstens nicht mit dem normativen Gehalt der "Menschenwürde" herumschlagen, wäre Jacob Grimm (1785-1863) als Politiker so erfolgreich gewesen wie als Märchensammler und Wörterbuchautor.
Jacob Grimm, der zusammen mit seinem Bruder Wilhelm auch vielen Juristen nur als ein Märchenonkel aus dem vorletzten Jahrhundert bekannt ist – und nicht als eigenwilliger Rechtshistoriker und -politiker –, gehörte 1848 für gut vier Monate als Abgeordneter der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche an. In dieser Funktion brachte er bei den Verfassungsberatungen am 4. Juli 1848 einen Antrag über einen neuen Artikel ein, der den Grundrechten vorangehen sollte. Die Norm sollte lauten:
"Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei."
Professoren der Staatsrechtswissenschaften dürften nicht allein wegen dieses verzwickten Pathos froh sein, dass die Deutschen – vom Herbst 1989 einmal abgesehen – ihre Revolutionen regelmäßig in den Sand setzen. Wäre es anders, müssten sie heute dem rechtshistorischen Märchenonkel den Ehrenplatz ihrer Grundrechtsvorlesungen einräumen, statt dem braven Immuel Kant, der seinerzeit in einem Königsberger Universitätsbüro die Menschenwürde nach Art. 1 Grundgesetz entwickelte.
Unter dem Titel "Freiheit statt Knechtschaft" erinnert Steffen Seybold in der Zeitschrift "Der Staat" (2012, S. 215-231) an Grimms Initiative, die in der Nationalversammlung zunächst viel Beifall erhielt, schließlich aber mit 205 zu 192 Stimmen abgelehnt wurde.
Pathosformel vom deutschen Boden, der frei macht
Seybold benennt zwei Quellen, aus denen sich das Pathos des Abgeordneten Grimm speiste. Zum einen beschämte der Sklavenhandel die europäische Öffentlichkeit jener Jahre. Friedrich Wilhelm Carové (1789-1852), ein Bekannter Grimms, regte an, dass nicht nur der deutsche Boden, sondern auch das Betreten eines deutschen Schiffes frei machen solle. Das zielte auf den transatlantischen Sklavenhandel, der in den Jahren zuvor nicht nur von den westeuropäischen Seefahrtsnationen, sondern auch in den deutschen Staaten verboten wurde – während in den USA die Sklaverei und in Russland die Leibeigenschaft rechtens blieb. Zum anderen war die "Freiheit … für Grimm eine besondere Eigenschaft des deutschen Volkes, die sich aus dessen Geist herausgebildet hatte. Die Anlage dieser Volkseigeschaft im Wesen der Deutschen glaubte Grimm bis zurück in die germanische Vorzeit belegen zu können."
In dieser rechtshistorisch eher fragwürdigen Konstruktion, die der Abgeordnete Grimm in positives Verfassungsrecht verwandeln wollte, entdeckt Seybold "die Vorstellung eines Urrechts, aus dem sich alle anderen Freiheitsrechte ableiteten. Diese Freiheit beinhaltete das Prinzip der Rechtsfähigkeit jedes Menschen."
Mit dem deutschen Boden, der "frei macht", war wohl eine Durchbrechung des persönlichen Status zu- oder durchreisender Leibeigener, Knechte oder Sklaven gemeint, angelehnt an den – historisch zweifelhaften – Satz des mittelalterlichen Rechts: "Stadtluft macht frei".
Vom Pathos zur Scham
Während die juristische Gefühlsarbeit mit dieser Sorte Pathos wohl auf rechtshistorische Universitätsseminare beschränkt bleiben dürfte, findet sich – ebenfalls etwas entlegen – ein Aufsatz, aus dem sich rechtspolitisch und -praktisch etwas machen ließe: "Scham als Verhaltenssteuerung im Recht" behandelt der Aufsatz von Dieter Krimphove in der Zeitschrift "Rechtstheorie" (2012, S. 91-115).
Der Juraprofessor aus Paderborn stellt das Phänomen "Scham" als ein "gesellschaftliches Sanktionssystem zum Zweck der Sanktionierung sozialwidrigen Verhaltens" vor, das neben dem Phänomen "Recht" existiere, mit diesem aber eine Reihe positivrechtlicher Verknüpfungen aufweise.
So sehe das deutsche Recht nicht nur den "Scham-Schutz" des Opfers, zum Beispiel durch die Strafbarkeit männlichen Exhibitionismus oder der Verletzung des persönlichen Geheimbereichs vor: "Es ermöglicht sogar den Schutz aller Prozessbeteiligten und auch des Täters", durch Ausschluss der Öffentlichkeit vom beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren bis zum parlamentarischen Untersuchungsausschuss.
Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6814 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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