Juristische Grenzwissenschaften: Kunstgeschichten für Juristen

von Martin Rath

16.02.2014

2/2: Lektion drei: Übung in forensischer Wissenschaftssprache

Ob man der kunsthistorischen Interpretation eines abgeschlagenen Königskopfes folgen möchte oder die Analogie zur blutigen Hostie der Republik als befremdliche Äußerung von komischen Orchideenfächlerinnen stehen lässt, sei dahingestellt. Was damals in den Köpfen analphabetischer Bauern vorging, deren Anschluss an die Öffentlichkeit im sonntäglichen Besuch der Messe bestand, wird sich ja kaum ermitteln lassen.

Vor der – für Fachfremde vielleicht befremdlichen Interpretation – absolvieren die Kunsthistoriker aber eine Methode, die juristischen Praktikern nicht fremd ist: Sie beschreiben nüchtern, kühl und herzlos die Elemente eines Bildes, beispielsweise die Mechanik einer zeitgenössischen Guillotine.

Angehende Juristinnen und Juristen werden da mit dem "Täter (T)" und dem "Opfer (O)" sprachlich sehr geschont. Der blutige Ernst holt sie später vielleicht ein. Die Zeitschrift "Rechtsmedizin" (2014, S. 37-41) zeigt etwas in Wort und Bild, was bei Gericht zur Sprache kommen kann. Eine Fallbeschreibung in der aktuellen Ausgabe beginnt wie folgt: "Während des Ballspielens auf dem Pausenhof einer Schule erschienen 2 unangeleinte Hunde zwischen den Kindern und begannen, dem Ball nachzujagen." Abbildungen zeigen die Biss- und Krallenspuren am Körper des von den beiden Hunden getöteten 6-jährigen Jungen sowie das Ohr und weitere Kopfteile, die im Magen eines der später obduzierten Hunde gefunden wurden. Die Rechtsmediziner S. Heinze et al. beschreiben die "Tödliche(n) Attacken von Hunden auf Kinder" nüchtern, kühl und herzlos – als Teile eines Bildes, das nun nicht der kunsthistorischen, sondern einer juristischen Interpretation dient.

Kunsthistorikerinnen mit Spezialkenntnissen auf dem Gebiet abgetrennter Köpfe und sonstiger Brutalitäten der historischen Bilderwelten sollten daher nicht allzu sehr verschrecken. An die nüchterne, kühle und juristische Interpretation von Tatsachenbefunden kommen diese Schöngeister nämlich keinesfalls heran.

Lektion vier: Herzensbildung mit Giraffe oder Kakadu?

Eine junge Giraffe geschlachtet und öffentlich an Löwen verfüttert zu haben, brachte dem Direktor des Zoos von Kopenhagen in der vergangenen Woche einen veritablen Shitstorm ein. Ob die Tötung eines solchen Tiers nach den in Deutschland geltenden Regeln rechtens sei, war jedenfalls Teil einer laienjuristischen Auseinandersetzung hierzulande. Bengt Holst, den Zoodirektor, dabei zu beobachten, wie er in sachlicher und nüchterner Form die Fragen eines moralisierenden, plapperhaft-aufgeregten TV-Journalisten konterte, legte schon ohne Prüfung der näheren tierschutzrechtlichen Normen die Vermutung nahe, hier habe "niemand […] einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden" zugefügt, § 1 Satz 2 Tierschutzgesetz.

Zu den für Juristen manchmal, für Nichtjuristen recht häufig überraschenden Eigenschaften von Gerichtsentscheidungen zählt, dass Werturteile den Ausschlag geben, die bestenfalls im Gesetzestext, üblicherweise im dogmatischen Kommentar, nicht selten auch allein im Kopf des Entscheiders aufzufinden sind. Werte sind in einer modernen, funktionsorientierten Gesellschaft so wichtig, erklärt der berühmte Bielefelder Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann (1927-1998), weil Juristen nicht mehr auf religiöse oder "naturrechtliche" Rechtfertigungen zurückgreifen können – hier "fungieren Werte praktisch als Reflexionsstopps". Sachlichkeit und Nüchternheit könnten solche "Reflexionsstopps" sein.

Die Kunsthistorikerin Anita Hosseini beantwortet in einer Analyse des Bildes "An Experiment on a Bird in the Air Pump" von Joseph Wright of Derby zwar nicht die für deutsche Juristen interessante Frage, warum große Magier rote Gewänder tragen, erklärt aber einige Bildelemente, die auch zu einem juristischen Fall eines getöteten Tiers zählen könnten. Auf der Tatsachenebene: In dem Vakuumglas steht ein Kakadu zwischen Leben und Tod. Ein Lederbalg im Vordergrund könnte das Tier ersetzen, weil auch er geeignet und dazu bestimmt ist, den Effekt des Vakuums auf einen plastischen Körper zu demonstrieren.

An wertendem Verhalten zeigt das Bild von 1768 Zuschauer des Experiments, die sich dem Vogel im Todeskampf neugierig zu- oder entsetzt abwenden. Wer setzt hier die nachvollziehbaren "Reflexionsstopps"?

Um Reflexionsstopps kommt niemand herum, der eine Entscheidung treffen möchte. Den Schatz an möglichen Wertungen können kunstgeschichtliche Darstellungen bereichern. Mag sein, dass das auch die Entscheidungsqualität verbessert.

Literaturhinweis: Der Besuch apokalyptischer Vorlesungen in brutalistischen Universitätsgebäuden lässt sich unter anderem vermeiden mit: Nadia Ismail & Doris Schuhmacher-Chilla (Hg.): "töten. Darstellbarkeit eines Prozesses?", Athena-Verlag Oberhausen, ISBN 978-3-89896-504-0, 166 Seiten, 22 Euro.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 16.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11010 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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