Juristische Grenzwissenschaften: Kunstgeschichten für Juristen

von Martin Rath

16.02.2014

Als Hilfswissenschaft hat die Kunstgeschichte derzeit juristisch Konjunktur: Es gilt, die "NS-Raubkunst" aufzuspüren. Studien über die Figur der Justitia in der bildenden Kunst fördern vielleicht die rechtshistorische Allgemeinbildung. Aber kann Kunstgeschichte auch dazu dienen, an den Grenzen der Juristerei zu arbeiten? Ein Essay von Martin Rath.

Ein Hörsaal im Betongebäude einer rheinischen Provinzuniversität Ende der 1990er-Jahre. Einige Jurastudenten wollen herausfinden, was es mit dem damals schon etwas betagten Klischee auf sich hat, dass die Herren der Schöpfung das Recht als Brotfach studierten, während in den Orchideenfächern ihre potenziellen Frauen fürs Leben den schöneren Künsten folgten. Im Hörsaal – erbaut im von Architekturhistorikern so genannten "brutalistischen" Stil – wird Kunstgeschichte gelehrt: Die Bildwelt der biblischen Apokalypse in der Kunst der letzten 500 Jahre steht auf dem Lehrplan. Die Herren Jurastudenten nehmen bald schon Abstand. Apokalypse? Niemand will vorzeitig ans Staatsexamen denken müssen.

Ein schmales Bändchen unter dem Titel "töten. Darstellbarkeit eines Prozesses?", herausgegeben von den Kunsthistorikerinnen Nadia Ismail und Doris Schumacher-Chilla, reizt zu einem Gedankenspiel, ob sich Blicke über die Gartenzäune der Fakultäten nicht doch lohnten – jenseits aller Zufälle der akademischen Partnersuche. Der Band zeigt, wie Kunsthistoriker mit den grausamen Bildern umgehen, denen Juristinnen und Juristen – jedenfalls zu Ausbildungszwecken – meist nur in den dürren Fallgeschichten von "Täter (T)" und "Opfer (O)" begegnen. Vier kleine Aufklärungsansätze lassen sich destillieren.

Lektion eins: Dokumentation verlorenen Rechtswissens

Eine zierliche, nicht allzu gründlich ausgearbeitete Skizze von Leonardo da Vinci (1452-1519) aus dem Jahr 1479 zeigt eine "unheimliche Erscheinung auf einem Blatt Papier, dessen sonstige, fast ungestörte Leere ein von Raum und Zeit losgelöstes Nirgendwo evoziert". Es ist die Skizze des gehängten Bernardo Bandini. Während der Ostermesse, am 26. April 1478, war Giuliano de’ Medici, Mitregent der reichen Stadt Florenz, einem Mordanschlag zum Opfer gefallen, geführt unter anderem von Bandini. Die Kunsthistorikerin Anna Pawlak erinnert in ihrem Aufsatz "Visuelle Archive des Tötens. Die öffentliche Hinrichtung als Bildereignis in der Frühen Neuzeit" an eine künstlerische Erscheinungsform des älteren Justizwesens.

Während rund 70 Verschwörer gegen die Vorherrschaft der Medici gefasst und unter anderem an den Fenstern des Pallazzo della Signora (heute: Palazzo Vecchio) gehängt werden, kann Bandini zunächst bis nach Konstantinopel (heute: Istanbul) fliehen. Bis die Florentiner Justiz seiner habhaft wird, erfolgt eine "executio in effigie", eine symbolische Hinrichtung seines Bildes, die europäische Gesetzbücher noch bis ins 18. Jahrhundert vorsehen. Gemalt wurde das Schandbild, das den flüchtigen Bandini mit den Füßen nach oben gehängt zeigte, vom großen Sandro Botticelli (1445-1510).

Moderne Strafrechtslehrbücher erinnern bestenfalls an den ungeliebten Prozess in Abwesenheit, sicher nicht an die symbolische Hinrichtung. Hier dient Kunstgeschichte der auch rechtshistorischen Erinnerung an eine Wurzel des Strafrechts: an ein überwältigendes Bedürfnis nach Rache und Auslöschung des Bösen.

Lektion zwei: Irritation durch Bilder

In der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift "Der Staat" (4/2013, S. 662-677) findet sich eine sprachliche Irritation staatsrechtlicher Gewissheiten, die nur deshalb nicht erschüttert, weil sie im Alltag eher belanglos ist: Die seit Beginn der Bundesrepublik in regelmäßigen Abständen auftauchende Behauptung, "eigentlich sei ja der Präsident des Bundesrates die Nummer Zwei im Staate", wird dort von Jürgen Hartmann untersucht und – mangels bundespräsidialer Ordnung des Ranges in den frühen Jahren der Republik – verworfen. Das positive Recht gebe die Nummer Zwei für den Bundesratspräsidenten nicht her.
Diese Irritation wird sich vermutlich bald auflösen, wenn es demnächst in Grundgesetzkommentaren heißen wird: "a.A. Hartmann, Der Staat 2013, 662".

Juristen sind es gewohnt, Irritationen ihrer Dogmatik durch Dokumentation zu verarbeiten, hier: der "anderen Ansicht" zur protokollarischen Ordnung der Republik. Kunsthistoriker bieten erheblich stärkere Irritationen. Katrin Weleda, Spezialistin auf dem Gebiet der Enthauptung, erinnert im genannten Band daran, wie sich das revolutionäre Frankreich nach 1789 aller – heute bei Hartmann eher komisch wirkenden – protokollarischen Unterschiede in der Staatsordnung entledigte. Ein oft zitiertes Flugblatt zur Hinrichtung von Ludwig XVI. (am 21. Januar 1793) zeigt den abgetrennten Kopf des vormaligen Königs, freischwebend über der Hinrichtungsanordnung Robespierres, hochgehalten von einem einsamen Arm. Weleda würdigt dieses Vorzeigen der königlichen Überreste mit der Berliner Kunstwissenschaftlerin Katharina Sykora: "(D)er Kopf des Königs (wird) zur Hostie, welche die Geburt der Republik aus dem Tod des Monarchen bezeugt".

Ein aktueller TV-Spot der Bundeswehr preist den freiwilligen Dienst in der Truppe damit an, dass man beim Wachbataillon das Strammstehen vor dem roten Teppich lernen könne. Vom heiligen Ernst des Staatsprotokolls, bei Hartmann distanziert diskutiert, bleibt in der gegenwärtigen Bildersprache ein albernes Werbefilmchen. Kunsthistorikerinnen erinnern an den blutigen Ernst, mit dem sich der Staat früher inszenierte. Das sieht im Detail unerfreulich aus, die Irritation gehört aber wohl zum Verständnis der Überreste, zum Beispiel in Gestalt eines sogenannten Staatsoberhaupts.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 16.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11010 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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