"Fiktionen arbeitet die deutsche Justiz geduldig ab"
LTO: Man sollte annehmen, dass Menschen ungern mit der Unverbindlichkeit leben, derzufolge eine ganze Stadt entweder existiert oder nicht existiert – je nachdem, wie man hinschaut. Es gilt ja schon als ein bisschen verschroben, wenn z.B. verwitwete Menschen noch mit ihren verblichenen Liebsten sprechen. Mit Fiktionen, Paralleluniversen, dem magischen Nachleben von Gustaf Gründgens z.B. hat die deutsche Justiz aber allgemein kaum Probleme?
von Halle: Nein, denn es gibt sogar gesetzlich vorgesehene Fiktionen, die danach verlangen, Dinge als gegeben anzusehen, obwohl sie nicht vorliegen. Die deutsche Justiz arbeitet das alles geduldig ab. Im Zivilprozess ist es sogar so, dass der Richter grundsätzlich von dem Sachverhalt ausgeht, den beide Parteien übereinstimmend vortragen. Das gilt dann als unstreitiger Sachverhalt. Ob alles wirklich so war, spielt keine Rolle.
Auch der Strafprozess kennt im Beweisantragsrecht die Wahrunterstellung. Sogar am Ende einer umfassenden Beweisaufnahme muss der vom Gericht festgestellte Sachverhalt keineswegs dem wahren Sachverhalt entsprechen. Das alles gilt auch für Prozesse vor dem Landgericht Bielefeld, wenn wir einmal als wahr unterstellen, dass es dieses Gericht überhaupt gibt.
LTO: Ich wollte noch darauf hinaus, dass Juristinnen und Juristen, namentlich in den deutschen Staatsanwaltschaften, besonders verschroben sein könnten. Sabine Rückert, die BILD/ZEIT-Journalistin, will vor Jahren herausgefunden haben, dass auf jedes statistisch und prozessual erfasste Tötungsdelikt ein Opfer von Kapitalverbrechen komme, das ohne staatsanwaltliche Aufmerksamkeit ins Grab geschafft wird. Die Hälfte aller – untechnisch gesprochen – Mordopfer in Deutschland existiert damit so wenig oder so gut wie Bielefeld?
von Halle: Vieles existiert so wenig oder so gut wie Bielefeld. Es kommt darauf an, was wir unter dem Begriff Existenz verstehen. Mal existiert etwas, dann aber auch nicht. Anhand Ihrer Frage lässt sich das erläutern. Eigentlich existieren gar keine Mordopfer, was aber nicht heißt, dass es sie nicht gibt. Das klingt nun widersprüchlich, aber das bekannte Mordopfer, in dessen Fall ermittelt wird, existiert eben nicht mehr, denn es ist tot. Das nicht bekannte Mordopfer ist auch tot. Mordopfer existieren also nicht. Der Begriff Existenz meint hier das Mordopfer als Verfahrensgegenstand. Man kann den Begriff Existenz eben unterschiedlich belegen. Mal ist etwas da, dann ist es weg.
"Bielefelder Urkunden? Da könnte ja jeder seine Existenz bescheinigen"
LTO: Eine Frage zum Schluss, die eine – vielleicht – beruhigendere Antwort erlaubt: Akademische Abschlüsse der Bielefelder Hochschulen, Eheschließungen vor dem Standesamt zu Bielefeld und dergleichen – muss man sich um Dokumente, Urkunden, Titel Bielefelder Provenienz von Rechts wegen Sorgen machen?
von Halle: Nun, wir konnten uns bei unseren Forschungen natürlich nicht irritieren lassen, wenn uns eine Person ihre Geburtsurkunde zeigte und unter Berufung darauf behauptete, Bielefelder zu sein. Denn diese Urkunden wurden ja gerade in Bielefeld ausgestellt. Selbst ausgestellte Belege eines vermeintlichen Gebildes, um dessen Existenz es geht, können aber schwerlich als Beweis der Existenz dieses Gebildes anerkannt werden. Sonst könnte ja jeder seine Existenz bescheinigen.
Allerdings muss sich niemand Sorgen machen, alle Bielefelder Urkunden gelten als in Ordnung und werden anerkannt. Die großartige Erkenntnis unserer Forschung besteht gerade darin, dass alles so bleiben kann, wie es ist. Wir bitten in unseren Westernstädten schließlich auch niemanden, seinen Cowboyhut abzusetzen.
LTO: Herr Professor von Halle, Schriftsteller und Wissenschaftler sind oft mit solider Eitelkeit ausgestattet. Wie kommt es, dass Sie sich grundsätzlich nicht nur vor den Lesern Ihres Werkes "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?" völlig verborgen halten, sondern auch Ihr Verlag angibt, dass Sie verschollen seien?
von Halle: Das Pseudonym habe ich gewählt, um ein Missverständnis zu vermeiden. Mir geht es nicht um eine Kritik anderer Wissenschaften oder darum, mich über Teilnehmer der Exzellenzinitiative lustig zu machen. Vor deren Forschung habe ich Respekt und kann ihr Schaffen auch gar nicht beurteilen. Genau dieser Eindruck könnte aber entstehen, wenn ich unter meinem Klarnamen und damit in meiner Rolle als Wissenschaftler auftreten würde.
Was ich mir mit diesem Buch allerdings erlaube und satirisch zuspitze, dass ist eine Kritik an einer überhobenen, sich selbst lobenden Sprache, wenn immer wieder von Exzellenz, Leuchttürmen und Eliten die Rede ist. Um es klar zu sagen: Nicht nur ich, sondern viele Wissenschaftler mögen diese aufgeblasene Sprache nicht, zumal wirklich große Forscher so etwas von sich nie behauptet haben.
Der Verlag teilt dem Leser in einem Nachwort mit, Karl-Heinz von Halle sei nicht mehr zu erreichen, weil er dem Vernehmen nach einen Ruf an die Universität Bielefeld erhalten habe. Man wird sehen, was daraus wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die Kontaktaufnahme doch noch gelingt und Karl-Heinz von Halle in einem weiteren Buch aus seinem Leben in Bielefeld und an der Universität berichtet.
LTO: Wir danken Ihnen für das Gespräch. Darf man schließen mit: "Seh’n wir uns nicht in dieser Welt, dann seh’n wir uns in Bielefeld"?
von Halle: Gern, man trifft sich. Ich bin gedanklich sehr oft dort.
Das Interview führte Martin Rath.
Eine Rezension:"Karl-Heinz von Halle: "Gibt es Bielefeld oder gibt es Bielefeld nicht?, Eichborn im Lübbe-Verlag, 160 Seiten, ISBN 978-3-8479-0546-2, 9,99 Euro, eBook 8,49 Euro
Martin Rath, Interview mit Buchautor Karl-Heinz von Halle: . In: Legal Tribune Online, 09.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10931 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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