Juristische Sprachgeschichte: Rowdy als Rechtsbegriff

von Martin Rath

02.09.2012

Ist der Zug ohne uns abgefahren, regen wir uns über das Customer Relationship Management der Park & Ride feilbietenden Unternehmen schon genug auf, ohne dass uns jemand noch die englischen Vokabeln sauer macht. Wo jedoch bleiben die Sprachreinheitskämpfer, wenn sie gebraucht werden? Der "Rowdy" könnte sich in der europäischen Rechtssprache halten, was Martin Rath gar nicht gefällt.

Wegen "Rowdytum" verurteilte das Kreisgericht Potsdam am 17. Januar 1989 einen Mann zu 16 Monaten Freiheitsstrafe, weil dieser am 9. Dezember des Vorjahres an einer Hauswand ein Plakat mit der Aufschrift "Wir wollen ausreisen. Man läßt uns nicht." angebracht hatte.

Am 17. August 2012 wurden bekanntlich in Moskau drei Mitglieder der russischen Punkgruppe "Pussy Riot" zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt, weil sie im Februar in der Christ-Erlöser-Kathedrale ein politisches "Gebet" als Protest gegen die Verbindungen zwischen russisch-orthodoxer Kirche und dem Putin-Regime inszeniert hatten. Der Straftatbestand, der das Verdikt begründet, wird regelmäßig mit "Rowdytum" wiedergegeben.

"Rowdy" als Rechts- und Juristenvokabel

Soweit erkennbar, hat sich der "Rowdy" beziehungsweise das "Rowdytum" in den 1950er-Jahren auch in den Sprachgebrauch (west-) deutscher Juristen und der rechtswissenschaftlichen Literatur im freien Teil Deutschlands eingeschlichen. Erstmals und kaum zufällig in der damals wegen ihres extrem gefährlichen Straßenverkehrs und der zahllosen Gewaltdelikte unter "Halbstarken" berüchtigten Stadt Köln taucht das Rowdytum im Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Köln vom 23. März 1954 auf (Az. Ss 443/53). Das OLG lehnte es seinerzeit ab, den Tatbestand des alten § 315c Abs. 1 Ziff. 4, der die grob verkehrswidrige Verletzung der Überhol-, Vorfahrts- oder Geschwindigkeitsregelungen mit Gefängnis und Zuchthaus pönalisierte, "auf Fälle gröbsten Rowdytums im Straßenverkehr" zu beschränken.

Als Synonym für rücksichtsloses Verhalten im Verkehrsbereich hat sich das "Rowdytum" seither eingebürgert, zuletzt dokumentierte - wiederum - das OLG Köln die Wortschöpfung eines "Wasserrowdys", der mit seinem Schnellboot "Hustler 26" auf dem Rhein verunfallt war (Urt. v. 12.10.2010, Az. 9 U 84/10).

Erstaunlicher als die westdeutsche Karriere einer Vokabel, die im Englischen erst seit 1819 nachweisbar ist, war und ist ihr Gebrauch in der Rechtssprache der DDR beziehungsweise im Machtbereich der früheren Sowjetunion – einer Weltregion, deren Herrscher nicht durch besondere Begeisterung für die englische Sprache bekannt geworden sind.

"Chuliganstvo" – Tätertypenstrafrecht der Sowjetunion und DDR

Im Strafrecht der DDR war das "Rowdytum" keine harmlose Umschreibung für rücksichtloses Verhalten von Beschuldigten, das 1968 in Kraft gesetzte StGB-DDR kannte einen eigenen Straftatbestand "Rowdytum". § 215 Abs. 1 StGB-DDR sah vor:

"Wer sich an einer Gruppe beteiligt, die aus Mißachtung der öffentlichen Ordnung oder der Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens Gewalttätigkeiten, Drohungen oder grobe Belästigungen gegenüber Personen oder böswillige Beschädigungen von Sachen oder Einrichtungen begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Haftstrafe bestraft."

Bereits der Versuch war strafbar. In schweren Fällen, wenn das Gericht beispielsweise "durch die Tat die öffentliche Ordnung oder das sozialistische Gemeinschaftsleben durch Verbreitung von Unruhe unter der Bevölkerung in besonderem Maße gefährdet" sah oder es sich um einen Wiederholungstäter handelte, konnte auf Freiheitsstrafe zwischen einem und acht Jahren erkannt werden.

Bei diesen unbestimmten Straftatbeständen, den drakonischen Strafandrohungen sowie bei der Bezeichnung des Delikts mit einem angelsächsischen Lehnswort nahm sich der DDR-Gesetzgeber die Sowjetunion zum Vorbild, die den Kampf gegen den "Chuliganstvo", den "Hooliganismus", bereits unter der Herrschaft Lenins zum kriminalpolitischen Leitziel erklärt hatte.

Kampf der Sowjetunion gegen das Rowdytum

In einem seinerzeit schon historischen Überblick über den "Kampf der Sowjetunion gegen das Rowdytum" dokumentierte der später in Regensburg lehrende Strafrechtsprofessor Friedrich-Christian Schroeder 1966 die teils täter-, teils tattypologische Strafrechtspolitik der UdSSR (Jahrbuch für Ostrecht 1966, S. 87-132). Demzufolge erklärte Lenin bereits im November 1917, dass "Säufer, Rowdys, konterrevolutionäre Junker" mit den Mitteln der revolutionären "Justiz" zu unterdrücken seien. Im Januar 1918 benannte er die "Rowdys" – neben anderen – als "Pest" und "Eiterbeule", die es zu vernichten gelte.

Normativ und damit näher an der juristischen Tradition umschrieb das russische Strafgesetzbuch von 1922 Rowdytum als: "Ungezogene, unnütze (ziellose) Handlungen, die begleitet sind von einer offensichtlichen Äußerung der Mißachtung gegenüber einzelnen Personen oder der Gesellschaft im ganzen". Seither gingen immer wieder Kampagnen intensivierter Verfolgung solcherart "definierter" Täter oder Handlungen durchs Land, von 428 registrierten Verurteilungen im Jahr 1923 bis zu über 300.000 im Jahr 1925 – allein im russischen Teilgebiet der Sowjetunion.

Unter Stalin ließ man die ohnehin kaum griffige Definition fallen, unter Strafe standen seit 1940 "rowdyhafte Handlungen in Betrieben, Behörden und an öffentlichen Orten".

Noch in der Ära Chruschtschow, Parteichef von 1953 bis 1964, wurden Kampagnen gegen das Rowdytum inszeniert. Schroeder zitiert als Beispiel für die Haltung von Presse und Justiz einen "Leserbrief" in der Zeitung des Jugendverbandes der Kommunistischen Partei: "…der Rowdy ist nicht bloß ein Menschentyp, der über die Stränge schlägt, sondern ein Feind, ein Verräter unserer Gesellschaft…".

Das in dieser Periode reformierte Strafrecht differenzierte grob zwischen einfachen und qualifizierten Formen des "Rowdytums",  wobei die Bandbreite der möglichen Begehungsformen vom unflätigen Schimpfen in der Öffentlichkeit bis zu  Raufereien reichte, der Strafrahmen von kurzen Arrest- und kleinen Geldstrafen bis zu einjährigen Freiheitsstrafen für das Regeldelikt. Eltern hafteten für ihre Kinder, das Alter der Strafmündigkeit wurde zeitweise auf 12 Jahre gesenkt.

In der Justizpraxis nützte dem Beschuldigten der verhältnismäßig geringe Strafrahmen für das Grunddelikt nicht. Die "böswillige Gesinnung" des einfach nur auffällig oder ausfällig gewordenen Beschuldigten konnte zur Qualifikation genügen. Für eine Teilrepublik ermittelte Schroeder, dass 1965 rund 75 Prozent aller "Rowdies" als "böswillig" zu einer Freiheitsstrafe von zwei bis drei Jahren verurteilt wurden.

Zur Gesetzgebungsmaschinerie der Sowjetunion merkte er sarkastisch an, dass zunächst die russische Teilrepublik auf Parteibeschluss entsprechende Gesetze erließ und die anderen sowjetischen Gebiete sich "gewohnt spontan" anschlossen. Im StGB der DDR durfte eine entsprechende Norm 1968 daher kaum fehlen.

Vom typologischen Strafrecht der Diktatur zu dem der EU?

In seiner weitgefassten Form diente der Rowdytum-Straftatbestand allenthalben sowohl zur Aburteilung sozial unerwünschten Fehlverhaltens, das vielleicht auch nach den Buchstaben liberaler Strafrechtsordnungen pönalisiert ist, wie auch politischer Abweichler wie im eingangs benannten Beispiel aus dem Winter 1988, kurz vor dem Verenden der DDR.

Das Delikt war dabei doppelt ambivalent. Zum einen konnte die paranoide Staats- und Parteiführung in jedem an sich unpolitischen Verhalten, zum Beispiel dem Straßenleben von "Punkern" oder "Rockern", kriminelles Unrecht entdecken, war der Untertan der sozialistischen Staatsordnung doch gehalten, sich der sozialistischen Moralität zu befleißigen. Zum anderen konnten durchaus politische Handlungen, etwa die Forderung nach Ausreise aus der DDR, unter eine Strafnorm subsumiert werden, von der auch moralisch zweifelhaftes Verhalten wie Urinieren oder Herumpöbeln in der Öffentlichkeit erfasst wurde – der Gesinnungstäter konnte so wie der Trunkenheitspöbler abgeurteilt werden.

Seine Vorgeschichte in der kommunistischen Diktatur und in dem postsowjetischen Putin-Regime der Gegenwart sollte genügen, den Begriff "Rowdy" oder "Rowdytum" aus dem Wortschatz westlicher Juristen zu entfernen.

Leider sorgt der Rat der Europäischen Union dafür, dass die Vokabel einen dauerhaften Eintrag im Wörterbuch der europäischen Gesetzgebung erhalten könnte: Am 9. Juni 1997 traf das Gremium eine "Entschließung zur Verhinderung und Eindämmung des Fußballrowdytums" (Amtsblatt C 193 v. 24.04.1997). Getroffen werden soll damit ein Verhaltens- oder Tätertypus. Man weiß nicht, was dem noch alles folgen mag. Das ist vermutlich kaum zu kritisieren, solange kein tätertypologischer Straftatbestand entwickelt wird.

Der Mühe, strafbar rücksichtsloses Verhalten konkret zu definieren, müssen sich Gesetzgeber im Westen im Allgemeinen unterziehen. Solange der Osten nicht so liberal ist, möchte man die Täter im freieren Teil Europas vielleicht doch lieber "Rüpel" oder "Rohling" nennen. Wenn es schon sein muss, den Täter, nicht die Tat zu bezeichnen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristische Sprachgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6973 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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