Rehbraunäugige Frauen tragen Trachtenhüte mit roten Knollen auf dem Kopf. Ihre Burschen singen vom "Schwarzwaldmädel" – sogar auf Hochdeutsch, der Touristen wegen. Irgendwo auf der Autobahn hinter Mannheim beginnt der Klischeeschwarzwald. Reisende Juristen sollten sich hier besser an Orte revolutionärer Gerechtigkeit erinnern. Ein Juristenreiserat von Martin Rath.
Ob die Bürger von Schallstadt, einem 6.000-Seelen-Nest bei Freiburg im Breisgau, wissen, dass einer ihrer Bürgermeister als Geschworener an einem der verwickeltsten Prozesse der deutschen Rechtsgeschichte mitgewirkt hat? Vermutlich nicht. Denn kaum jemand kennt den Namen des Geschworenen Georg Höflin.
Wie auch, wenn es schon den beiden Angeklagten des ersten Schwurgerichtsprozesses in Baden außerhalb interessierter Kreise kaum besser ergehen dürfte. Schade eigentlich, denn der Hochverratsprozess gegen Gustav Struve und Karl Blind würde samt seiner revolutionären Vorgeschichte einen so guten Stoff für eine Art Schwarzwald-Western abgeben, dass Hollywood die Story längst verfilmt hätte, lägen die Handlungsorte nur ein paar Tausend Kilometer weiter westlich.
Staufen, Lörrach, Freiburg – eine deutsche Revolution
Im Frühjahr 1848 machte im deutschen Südwesten der im Vergleich zu seinen Mitverschworenen viel populärere Friedrich Hecker (1811-1881) den Anfang mit der Hochverräterei. Im Verlauf seines Freischärlerzugs von Konstanz nach Karlsruhe proklamierte er im April 1848 im Großherzogtum Baden die deutsche Republik. Der Heckeraufstand war der Startschuss für die Badische Revolution und wurde trotz seines Scheiterns zu einem politischen Mythos.
Weit weniger populär als der "Heckerzug" weniger hundert teils romantisch kostümierter Freischärler, aber von rechtshistorischem Interesse, sind die revolutionären Abenteuer von Gustav Struve (1805-1870) und Karl Blind (1826-1907). Der heute in den USA lehrende Komparatist und Rechtshistoriker Mathias Reimann hat ihrem Prozess vom März 1849 eine Studie gewidmet, wie man sie für die deutsche Rechtsgeschichte eher selten findet und die lesenswert ist – nicht allein, um dem touristischen Schwarzwaldkitsch etwas entgegenzusetzen.
Im August 1848 hatte Gustav Struve, ein etwas verkrachter Jurist von anerkannt schwierigem Charakter, die Lage nicht recht erkannt. Als Journalist hatte ihn die überscharfe Zensur in Mannheim radikalisiert. Nach dem gescheiterten "Heckerzug" vom April, an dem er in führender Position beteiligt war, standen wiederholte Grenzwechsel nach der Schweiz an. Der Revolutionär war auf der Flucht. Trotzdem sammelte er weiter Freiwillige für den nächsten Anlauf, die Fürstenherrschaft zu stürzen.
Am 21. September 1848 zog Struve zu diesem Zweck mit 50 Kämpfern von Basel nach Lörrach. Zu den ersten Todesopfern der Revolution zählte der Gendarm Fritz aus Kleinlaufenburg, der in der Nacht vom 22. auf den 23. September beim Versuch starb, die Zollkasse vor revolutionärem Geldbedarf zu schützen. Struves Mannschaft wuchs zeitweilig auf wenige hundert Mann an. Populär wie der Heckerzug ein halbes Jahr zuvor wurde sie nicht, auch weil nun Bürger nach den militärischen Regeln dieser Zeit zur Teilnahme gepresst wurden. Post-, Zoll- und Steuerkassen wurden allenthalben beschlagnahmt.
Die – gerade erst frisch geschaffene – Staatsanwaltschaft sollte für den Prozess im März 1849 ermitteln, dass 20.000 Gulden, ein Betrag von erheblicher Kaufkraft, den Besitz wechselte. Die regional bekannte Familie Blankenhorn verlor 4.000 Gulden, damit vier ihrer Männer nicht zum Kriegszug gepresst wurden.
Beim Zusammentreffen mit den Großherzoglichen Truppen gelang es nicht, die Liniensoldaten zum Überlaufen zu bewegen. Struve, dem revolutionären Hitzkopf und bekennenden Vegetarier, fehlte wohl das rhetorische Geschick, Soldaten zum Überlaufen zu bewegen. Am 24. September rückten 800 Mann regulärer Truppen des Monarchen auf Staufen, das von den Freischärlern nicht zu halten war. Elf von ihnen starben dabei. Sechs unbeteiligte Zivilisten wurden von den Soldaten im Exzess getötet. Auf der Flucht zurück in Richtung Schweiz wurden Struve, seine Frau und Karl Blind am 25. September von Bürgern verhaftet – vor deren Zorn sie nur das Militär bewahrte.
Vom Standrecht zum regulären Prozess
Dafür, dass der Rechtsstaat auch in Zeiten der Revolte keine Eile verträgt, hatte die großherzoglich-badische Regierung erstaunlich viel Sinn. Zwar wurde ein Gesetz über das Standrecht auf den Weg gebracht, man legte jedoch Wert darauf, dass es dem potenziell aufrührerischen Volk zunächst zur Kenntnis gebracht würde.
Als das Standrecht schließlich am 26. September 1848 über das unruhige Oberland verhängt wurde, saßen Struve samt Gattin und Mitverschwörer Blind bereits in Haft. Das Standgerichtsverfahren sah die Todesstrafe, zu vollstrecken binnen drei Stunden nach Urteilsspruch vor. Am 27. September trat das Standgericht unter dem Gerichtspräsidenten Litschgi, weiterer Juristen und Militärs im Fall Struve und Genossen zusammen. Obwohl Struve, als echter romantischer Revolutionär dramatisch geständig war, erklärte sich das Standgericht für nicht zuständig, weil zwar nach Verhängung des Standrechts weitere Straftaten zu beklagen seien, die Struve – bereits in Haft – aber nicht mehr mit gutem Gewissen zuzurechnen seien.
Der badische Innenminister äußerte sich zu diesem rechtsstaatskonformen Befund wie man es von seinen Kollegen sowie von Polizeigewerkschaftlern bis heute kennt: unangenehm überrascht.
Sowohl die materiellrechtlichen wie die prozessualen Voraussetzungen für das weitere Verfahren geben den Stoff für ein akademisches Seminar wie für einen Justizthriller ab. Struve und Blind wurden unter recht elenden Bedingungen in der Festung Rastatt eingekerkert. Das Ermittlungsverfahren lief, obwohl eine modern-liberale Strafprozessordnung wie auch ein zeitgemäßes Strafgesetzbuch bereits beschlossen und publiziert worden waren, in den Bahnen des alten Inquisitionsprozesses: geheim und ohne Akteneinsicht durch die Anwälte. Beide Gesetzeswerke waren noch nicht formell in Kraft gesetzt worden.
Verwickeltes Strafrecht, neues Prozessrecht
Als materielles Strafrecht galt das Gesetz Kaiser Karls V., die Peinliche Halsgerichtsordnung von 1532, die für nicht näher definierte Fälle "boßhafftiger verreterey" die Todesstrafe vorsah, wobei ein badisches Dekret aus dem Jahr 1803 die Strafverschärfung – Tötung durch Folter und Vierteilung – beseitigte. Ähnlich unbestimmt war das Delikt des Aufruhrs.
In ihrer Anklageschrift für den Prozess im März 1849 zitierte die Staatsanwaltschaft schließlich alles, was irgendwie materiell-rechtlich den Hochverratsvorwurf betraf – von den antik-römischen Digesten über die Peinliche Halsgerichtsordnung bis zum noch nicht in Kraft gesetzten badischen StGB von 1845. Vorschriften über das Geschworenengericht, das öffentlich in Freiburg tagte, mussten ad hoc erlassen werden.
Wegen der unklaren materiellen Rechtslage gestaltete sich die Verhandlung zwischen dem 21. und 30. März 1849 höchst unübersichtlich. Die Anklage mühte sich zwar, über Einzeldelikte Beweis zu führen, etwa die Beschlagnahme der Zoll- oder Gemeindekassen durch die Revolutionstruppen – subsumierte das Geschehen aber nicht, wie es heute selbstverständlich wäre, unter Paragraphen wie Raub oder Diebstahl, sondern unter die normativ so wirren Hochverratstatbestände. Diese Taten wurden von den Angeklagten indes überhaupt nicht bestritten und waren auch dem Publikum im Gerichtssaal bestens bekannt.
Verteidigung und Angeklagte beriefen sich darauf, dass Hochverrat ein Delikt sei, dessen Beurteilung vom Willen des Volkes abhänge, also letztlich vom Erfolg der Revolution. Aus der jüngeren Vergangenheit kennt man den Dreh, der einen Nelson Mandela vom Terroristen zum Nationalheiligen machte. Weil die Anklage die staatsrechtliche Frage nach der Legitimität der Revolution von den Geschworenen nicht beantwortet sehen wollte, wurden der Jury aber nur reine Tatbestandsfragen vorgelegt, die völlig unbestritten waren. Etwa zum Lörracher Kassenraub.
Die Geschworenen wehrten sich zum großen Erstaunen des Gerichts sowie der Öffentlichkeit gegen diese Beschneidung. Durften sie etwa auf die Frage, ob Struve sich mit anderen Personen verschworen hatte, die im Großherzogtum Baden bestehende Verfassung zu stürzen, von Rechts wegen nur mit "ja" oder "nein" antworten, lautete ihr Verdikt gegen alle offensichtlichen und unbestrittenen Tatsachen: "Nein, weil es im Lauf der Revolution geschehen ist".
Unbeliebtheit des Geschworenenprozesses in Deutschland
Struve und Blind wurden am Ende nur wegen Kassenraubs zu acht Jahren Haft in Bruchsal verurteilt, aus der sie bereits im Sommer 1849 während des dritten badischen Aufstands befreit wurden. Diesen Aufstand schlugen preußische Truppen blutig nieder.
Das allen offenkundigen Tatsachen widersprechende Freiburger Urteil sollte als Beispiel für die vermeintliche Irrationalität der Laienjustiz zitiert werden, bis das Geschworenengericht in den 1920er-Jahren aus Kostengründen abgeschafft wurde.
Für öffentliche Planungsverfahren hat in den 1970er-Jahren der Wuppertaler Professor Peter Dienel die Geschworenen wiederentdeckt. In einem sogenannten "Planungszellenverfahren" sollten Laien über den Wert staatlicher Projekte befinden. Den Freunden und Förderern eines tiefergelegten Stuttgarter Bahnhofs wären wohl viele Fragen nach der Legitimität des Ganzen erspart geblieben, hätten sie sich beizeiten an den badischen Geschworenenmut erinnert.
Mathias Reimanns "Der Hochverratsprozeß gegen Gustav Struve und Karl Blind" (1985) lässt sich bis zur Einsicht der Obrigkeit in den Eigenwillen der einfachen Leute studieren – und sei es nur, um durch Baden-Württemberg reisen zu können, ohne der kitschigen Schwarzwaldromantik zu erliegen.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht auf Reisen: Schwarzwald: . In: Legal Tribune Online, 22.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6669 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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