Erste Analyse des NS-Völkerrechts: Vom Recht des deut­schen Volkes

Gastbeitrag von Dr. Sebastian Felz

02.09.2023

1933 wurde John H. Herz wegen seines jüdischen Glaubens aus dem Rechtsreferendariat entlassen. 1938 legte er unter Pseudonym eine erste Analyse des nationalsozialistischen Völkerrechts vor. Sebastian Felz über die Person und ihr Werk.

Wenn es um frühe Analysen des NS-Rechts geht, sind es die Namen Ernst Fraenkel oder Franz Neumann, die zuerst fallen. Sie schrieben Klassiker wie den "Doppelstaat" und "Behemoth".

Aber noch vor dem Erscheinen beider Bücher ab 1941 legte John H. Herz – unter dem Pseudonym Eduard Bristler – seine Studie "Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus" vor. Das Buch erschien 1938 in der Schweiz und wurde in Deutschland verboten.

Ein Emigrantenschicksal: Von Düsseldorf nach New York

Hans Hermann Herz wurde 1908 in Düsseldorf geboren. Er studierte Rechts- und Literaturwissenschaften sowie Philosophie u.a. in Berlin, Köln und Bonn. Nach der juristischen Promotion 1931 bei Hans Kelsen, wurde Herz 1933 wegen seines jüdischen Glaubens aus dem Referendariat in Düsseldorf entlassen und musste emigrieren. Sein Doktorvater Kelsen verhalf ihm 1935 zu einem Forschungsaufenthalt in Genf an das "Institut für Internationale Studien". Dort arbeitete er u. a. mit seinem früheren Kollegen aus der Kölner Fakultät, Hans Mayer, der in der Bundesrepublik ein wichtiger Literaturwissenschaftler werden sollte. 

1938 wanderte der 30-jährige Herz in die USA aus, änderte seinen Vornamen in "John" und verbrachte bis 1941 drei Jahre am Institute for Advanced Studies in Princeton, wo er Tür an Tür mit Albert Einstein wohnte. Schon nach Kriegsende reiste er im Auftrag des amerikanischen State Departments, für das er von 1945 bis 1948 arbeitete, nach Nürnberg, um dort den amerikanischen Anklagevertreter rechtlich zu beraten. Seit den fünfziger Jahren bereiste Herz mehrfach die Bundesrepublik und lehrte als Gastprofessor u.a. an der FU Berlin und in Marburg. In den USA lehrte er ab 1941 und dann wieder ab 1948 an der Eliteuniversität Howard University in Washington DC. Von 1952 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1977 lehrte er am City College und an der City University of New York. Herz verstarb 2005.

NS-Anschauung: "Kampf, Sieg, Untergang menschlicher Rassen"

Herz beginnt seine Analyse des nationalsozialistischen Völkerrechts mit einer beklemmenden Feststellung. Die Nationalsozialisten rühmen sich immer des "Gefährlich-Lebens", aber sie sind in der "Sicherheit des Machtbesitzes". Denjenigen aber, die den Nationalsozialismus analysieren wollen, haben die Nazis "vieles, vor allem: die Heimat genommen", "was aber blieb, wiegt schwerer: die Geistesfreiheit". 

In dieser "Geistesfreiheit" seziert Herz zunächst die nationalsozialistische Weltanschauung. Sie speise sich aus der Romantik sowie aus naturwissenschaftlichem Denken mit "materialistisch-evolutionistischer Geisteshaltung" und verstehe die Geschichte als "Kampf, Sieg, Untergang menschlicher Rassen". Für das "Recht" bedeute diese rassische Grundlage, dass jedes Volk "sein bestimmt geartetes, unveräußerliches, unübertragbares, ihm eigentümliches Recht" habe. Ein abstraktes Recht für abstrakte Personen, das überall gelte und aufgrund staatlicher Macht durchsetzbar sei, sei "anti-völkisch" und zerstöre die "konkrete Gemeinschaftsordnung". 

Das Recht entstehe aus dem "Rechtsbewusstsein des Volkes", welches sich im "Führer" verkörpere. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft bestehe darin, diese Zusammenhänge bewusst zu machen: "Zu diesem Zwecke sind vor allem Juden als Träger des römisch-individualistischen, unvölkischen Rechtsdenkens aus dem nur von rassebewussten Ariern zu gestaltenden Rechtsleben auszuschalten". Herz sieht die Bruchstellen dieser Konzeption in der Frage, ob überhaupt eine einheitliche Volks-Rechtsüberzeugung bestehe und wenn ja, wie diese erkannt und umgesetzt werden solle: Wer entscheide überhaupt darüber, was das Recht sei, das "dem Volke nützt"?

Nur bilaterale Vereinbarungen mit "gleichgearteten Völkern"

In seiner Beschreibung der nationalsozialistischen Außenpolitik bis 1937 arbeitet Herz detailliert das angebliche Streben des NS-Regimes nach Frieden heraus. Die Nationalsozialisten missachteten zunächst jegliche multipolare Architektur internationaler Staatenbeziehungen. Sie billigten nur bilaterale Vereinbarungen mit "gleichgearteten Völkern".

Dann richtet er seinen Blick auf die Völkerrechtswissenschaft. Das nationalsozialistische Völkerrecht werde – wie jede Wissenschaft in NS-Deutschland – rassemäßig bedingt und diene nur der "artgleichen Volksgemeinschaft". Wissenschaft bedeute in Deutschland die Ablehnung eines "objektiven Wissenschaftsbegriffes" zugunsten einer der "Volksgemeinschaft" und der Politik dienenden Ideologie. Wissenschafts- und Meinungsfreiheit seien in Deutschland zugunsten der "Gleichschaltung" an den Universitäten und in den Redaktionsräumen der wissenschaftlichen Zeitschriften abgeschafft worden: "Die Zeit der politisch bekenntnisfreien, richtungslosen Rechtswissenschaft ist vorbei." Dafür sorgen Überwachung, Bespitzelung und Zensur. Herz urteilte hart: Aufgrund der völligen Politisierung und Gleichschaltung des Wissenschaftsbetriebes könne – auch wegen der parteiamtlichen Zensurbestrebungen – jede Publikation nach 1933 in Deutschland erschienen ist, als "nationalsozialistisch" bezeichnet werden. 

Für das Völkerrecht, das mehr als andere Rechtsgebiete "international" ausgerichtet ist, waren die Konsequenzen besonders schnell sichtbar. Das Deutsche Reich verabschiedete sich aus der internationalen Community: Die deutsche Landesgruppe der "International Law Association" stellte schon 1935 als Bedingung für deutsche Mitarbeit die Prämissen auf, dass "kein Jude Vertreter deutscher Rechtswissenschaft" sein könne und die "völlige Ausschaltung des Bolschewismus" auch im internationalen Wissenschaftsverkehr durchgeführt werden.

"Wissenschaftlicher Etikettenschwindel" vieler Autoren

Herz zeichnet dann die verwirrende Vielfalt von völkerrechtlichen Theoremen im nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb nach, die von klassischen Prämissen wie dem "Naturrecht" (Viktor Bruns, Carl Bilfinger, Carl Schmitt u. a.) oder den "Staatengrundrechten" (Ernst Wolgast, Herbert Kraus u. a.) ausgehen oder genuin nationalsozialistisch "Rasse und Volkstum" (Heinrich Rogge, Friedrich Berber, Norbert Gürke, Walter Hamel u. a.) in Anschlag bringen. 

Alle Autoren betreiben jeweils einen wissenschaftlichen Etikettenschwindel, denn es ging ihnen nicht um Fragen der "Völker" oder des "Rechts", sondern allein um den rechtlich verbrämten Machtanspruch des rassisch definierten deutschen Volkes. Daher ist allen gemeinsam eine "Minimisierung des Vertragswesens", eine Ablehnung des Schiedsgerichtswesens und völkerrechtlicher Organisationen. 

Von der Analyse des NS-Völkerrechtslehre zur Analyse des "Sicherheitsdilemmas"

So gleiche das Studium der NS-Völkerrechtslehre der antiken Tragödie, bemerkt Herz: Es erzeuge Mitleid und Furcht. Mitleid mit dem "forschenden Menschengeist", der hier missbraucht werde und Furcht vor den schrecklichen Konsequenzen, wenn diese Theorie Praxis werde. Es mag auch diese Analyse des nationalsozialistischen Imperialismus und seiner rechtlichen Legitimation gewesen sein, die dazu führte, dass Herz sich 1951 sowohl von idealistischen mit den Zielen Weltstaat und Weltrecht, aber auch von realistischen Theorien der Machtpolitik und Staatsräson im Bereich der internationalen Beziehungen verabschiedete.

In seinem Buch "Political Realism and Political Idealism" postulierte er für einen "Realliberalismus": die Verbesserung der Wirklichkeit im Rahmen des Machbaren. Er ging dabei vom "Sicherheitsdilemma" aus, also dem Streben der Menschen einerseits nach sozialen Beziehungen und andererseits nach Macht, um in diesen sozialen Beziehungen keinen Schaden zu nehmen. Herz sah in den 1940er Jahren ein verbessertes Kollektivsicherheitssystem – im Vergleich zu den 1930er-Jahren – als Lösung der Probleme der internationalen Politik an. 

Im Kalten Krieg schwenkte er um: Ein Machtgleichgewicht bei gleichmäßigen Machtzuwachs könne nicht mehr als erstrebenswert gesehen werden, wenn diese Machtzuwächse dazu führten, dass die Welt durch mehr Atomwaffen ihrem Untergang immer näherkam. Durch mehr "Vernunft" müsse der Weg der Verständigung und Abrüstung eingeschlagen werden. Nach dem Ende der Blockkonfrontation beschrieb Herz die Vision eines neuen Universalismus durch die Einsicht in die gemeinsame "Überlebensinterdependenz" der Menschheit, welche durch Abrüstung neue finanzielle Ressourcen für die Lösung globaler Probleme wie Hunger und Umweltzerstörung freimachen könnte. Der Krieg im auseinanderfallenden Jugoslawien, die Marginalisierung der UNO, die Ostererweiterung der NATO und schließlich der "Kampf gegen den Terrorismus" nach 9/11 verdeutlichten, dass Herz’ Vision nur ein kurzer Traum war: Die internationalen Beziehungen steck(t)en weiterhin im "Sicherheitsdilemma".

Literatur:

Foto: Duncker & Humblot

Zu empfehlen sind die Biographie von Jana Puglierin über John H. Herz (Berlin 2011) sowie ihr Aufsatz über das Sicherheitsdilemma in der Festschrift für Christian Hacke (Baden-Baden 2008). Außerdem ist die Autobiographie von John H. Herz (Vom Überleben, Düsseldorf 1984) sehr lesenswert.

Der Autor Dr. Sebastian Felz ist Referent in einem Bundesministerium (Bonn) und Vorstandsmitglied des Vereins Forum Justizgeschichte e. V.

Zitiervorschlag

Erste Analyse des NS-Völkerrechts: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52613 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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