Nach einer strafrechtlichen Verurteilung wegen "Unzucht zwischen Männern" musste ein Zahnarzt zwischen 1961 und 1965 um seine Berufszulassung kämpfen – das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zeigt überraschende Grautöne.
Zwischen Idylle und Abgrund liegt bekanntlich oft nur eine Armlänge. Die fränkische Gemeinde Markt Gößweinstein unweit von Bamberg und Bayreuth, heute Heimat von rund 4.000 Seelen, scheint ein passender Ort für diese Beobachtung zu sein.
Seit dem Mittelalter ein bedeutender Wallfahrtsort, zeugt einerseits eine wuchtige Basilika, die nach den Plänen des berühmten Barockarchitekten Balthasar Neumann (1687–1753) errichtet wurde, von katholischer Pracht- und Machtentfaltung nach dem erfolgreichen Kampf der Gegenreformation wider die protestantische Häresie. Andererseits bürgt ein Bestand von über einhundert lebensgroßen, bekleideten Wachsfiguren von einer unheimlichen Seite religiöser Inbrunst: wächserne Säuglinge und ausgewachsene Menschen, dargebracht als christliche Opfergaben.
Auch der Zeitraum, in dem sich die folgende straf- und berufsrechtliche Sache abspielte, wirkt wie aus der modernen Welt gefallen: Nach knapp drei Jahren endete 1957 die Koalition, die es dem Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner (1887–1980) erlaubt hatte, als bayerischer Ministerpräsident zu amtieren. Die härteste Konkurrenz der CSU, die alte Bayernpartei, ging damals an einer bösartigen Spielbankenaffäre zugrunde, gegen die sich "House of Cards" wie ein Kindergeburtstag ausnimmt.
Seither war alles so, wie es sein musste: Von München aus regierte die CSU, der Himmel war weiß und blau und der fromme Pilger sollte stets auf freundliche Aufnahme am Wallfahrtsort seiner Wahl rechnen dürfen.
Unzucht zwischen Männern im Bett des Pilger-Gastvaters
Wie viel Wahrheit in ihm liegt, mag dahingestellt sein – wie ein tiefer Riss in diesem weiß-blauen Klischee wirken jedenfalls die Vorgänge aus dem Markt Gößweinstein der späten 1950er und frühen 1960er Jahre.
Ein in der Gemeinde ansässiger Zahnarzt hatte an einem Abend im Frühsommer des Jahres 1960 einige Wallfahrer in seiner Wohnung aufgenommen – offenbar eine damals noch gepflegte Tradition christlicher Nächstenliebe, ein frommes Werk am Wallfahrtsort, das in diesem Fall jedoch so weit ging, dass der Mediziner einen 19-jährigen Pilger in seinem Bett unterbrachte.
Während der Nacht unternahm der Arzt wiederholt den Versuch "mit seiner Hand an seinen [sic!] Geschlechtsteil zu gelangen" – wie es die später damit befassten Juristen formulierten. Der junge Pilger "schob jedoch immer die Hand … sofort zur Seite".
Einige Monate zuvor, im Oktober 1959, war der Pilger-Gastvater schon einmal vom Landgericht Bayreuth "wegen des Vergehens der Unzucht mit einem Mann zu einer Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt worden", ausgesetzt zur Bewährung. Das Berufsgericht für die Heilberufe beim Oberlandesgericht Nürnberg sanktionierte den Vorgang – das außerdienstliche, offenbar einvernehmliche homosexuelle Handeln des Zahnarztes und eines wiederum 19-Jährigen – mit einer Geldbuße von 500 Mark.
Der neuerliche Vorgang wurde nunmehr mit dem ganz großen juristischen Besteck bearbeitet: Das Landgericht Bayreuth verurteilte den Zahnarzt im Fall des angefassten wallfahrenden Bett-Gasts "wegen eines Verbrechens der versuchten schweren Unzucht zwischen Männern in Tateinheit mit einem Vergehen der Unzucht zwischen Männern unter Zubilligung mildernder Umstände zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten".
Der Bundesgerichtshof (BGH) verwarf die Revision gegen dieses Urteil durch Beschluss vom 11. April 1961 (Az. 1 StR 65/61). Im Anschluss daran nahm die Regierung von Oberfranken die Bestallung des Mediziners zum Zahnarzt zurück – wünschte also, wie es das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 27. Oktober 1966, Az. I C 99.64 BVerwG) fünf Jahre später ausdrücken sollte, seine "bürgerliche Existenz … auszulöschen".
Licht und Schatten einer Gesellschaft im liberalen Umbruch
Die Regierung von Oberfranken stützte ihren Bescheid auf § 4 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde (ZHKG) vom 31. März 1952, wonach die Bestallung zurückzunehmen war, "wenn der Zahnarzt wegen schwerer Verfehlungen strafgerichtlich rechtskräftig verurteilt worden ist" beziehungsweise "wenn sich aus schweren sittlichen Verfehlungen des Zahnarztes die Unzuverlässigkeit zur Ausübung der Zahnheilkunde ergibt".
Während das Verwaltungsgericht Bayreuth der Klage des Mediziners stattgab, erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 18. November 1963, dass gleichgeschlechtliche "Unzucht … grundsätzlich eine schwere Verfehlung eines Angehörigen der Heilberufe" darstelle.
Über das strafrechtliche Urteil hinaus lägen "schwere sittliche Verfehlungen" im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 4 ZHKG vor. Der Mediziner "habe durch sein Verhalten das Ansehen der Zahnärzteschaft in der Öffentlichkeit schwer geschädigt und das Vertrauen in die untadelige Ausübung dieses Berufs erschüttert".
Vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVerwG ) hatte dieses Urteil keinen Bestand, wobei die Entscheidung der Richter in Berlin (West) einen überraschenden Blick auf eine langsam wachsende liberale Substanz der noch jungen Bundesrepublik gibt, die heute so gern allein in schwarzen und braunen Farbtönen gezeichnet wird.
Bundesverwaltungsgericht geht souverän mit Strafrecht um
Es sind Stimmen der Richter und die Stimme des Volkes, die keinesfalls bruchlos in das Bild einer Gesellschaft passen, die angeblich erst noch von akademischen Möchtegern-Revolutionären aus ihrem reaktionären Mief befreit werden wollte.
Mit Blick darauf, dass der Gesetzgeber des Jahres 1935 homosexuelle Handlungen unter Männern mit den §§ 175, 175a Strafgesetzbuch (StGB) über den bis dahin geltenden Status als Vergehen teils zum Verbrechen hochgestuft hatte, erklärte das Gericht souverän, es bei der Frage, ob eine schwere Straftat nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 ZHKG nicht allein darauf ankommen lassen zu wollen, ob formal ein Verbrechen oder ein Vergehen vorliege – es seien hier vielmehr alle Punkte zu prüfen, die für eine mildere Beurteilung der Straftat sprechen könnten.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe zwar mit Urteil vom 10. Mai 1957 (Az. 1 BvR 550/52) festgestellt, dass homosexuelle Betätigung "eindeutig gegen das Sittengesetz" verstoße, doch hafte "dem homosexuellen Täter im öffentlichen Bewußtsein nicht grundsätzlich und von vornherein der gleiche Makel der Ehrlosigkeit an wie dem Dieb oder dem Betrüger. Gleichgeschlechtlichkeit ist mit dem Begriff des Schicksalhaften verbunden. Der Kampf um die Strafbarkeit der Homosexualität ist bis heute noch nicht zum Stillstand gekommen. Danach kann nicht davon ausgegangen werden, daß jede homosexuelle Verirrung eines sonst unbescholtenen Zahnarztes außerhalb seines Berufs ihn schlechthin für seine Patienten untragbar macht."
Für einen Menschen, über dessen sexuelle Bedürfnisse und intimste Präferenzen in dieser Weise verhandelt wird, liegt in einer solchen Abwägung natürlich kein liberaler Trost – zumal die Berliner Richter zugunsten des Zahnarztes festhielten, dass er "kein Jugendverderber" sei und "sich weder an Kindern noch an Wehrlosen vergriffen" habe.
Auch eine Rettung des beruflichen Überlebens will selbstverständlich nicht mit Argumenten erkauft sein, die den Kläger derart moralisch qualifizieren – doch erkannten die Richter immerhin an, dass das BVerfG mit der Bestätigung der §§ 175, 175a StGB nicht das letzte Wort gesprochen hatte.
Zu den Haarrissen im Bild der heute oft ausschließlich schwarz-braun gezeichneten jungen Bundesrepublik mag beitragen, dass dem zuständigen I. Senat der Präsident des BVerwG vorsaß, Fritz Werner (1906–1969), der bereits vor 1933 der SA und NSDAP angehört hatte. Das schloss offenbar nicht aus, in der offen über Fragen der Sexualität streitenden Gegenwart des Jahres 1966 anzukommen.
Weit mehr aber als diese Haarrisse in einem vermeintlich starren Weltbild verdienen die Menschen in Markt Gößweinstein und Umland Aufmerksamkeit.
Wie erwähnt, zählt der Wallfahrtsort in der bayerisch-fränkischen Provinz heute, gewachsen um einige Eingemeindungen, rund 4.000 Bürgerinnen und Bürger – einem Gnadengesuch für ihren wegen "Unzucht mit Männern" verurteilten Zahnarzt schlossen sich 1961 nicht weniger als 606 Personen an.
Kein Grund, Geschichte schönzufärben. Grund genug, Abstand von moralischer Überheblichkeit zu nehmen.
Martin Rath, Verfolgung Homosexueller: . In: Legal Tribune Online, 11.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44694 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag