Eine Chinareise treten die wenigsten mit Rechtsfragen an, auch bringt man chinesische Besucher nicht gern mit "ius" in Verlegenheit. Doch haben wir mit unserer kleinen Sommerserie bereits exotische Regionen aufgegriffen, wie Hawaii oder den Schwarzwald. Auch an einem so fernen Ort wie China wird Martin Rath auf der Suche nach Rechtsfragen natürlich fündig.
Nicht ohne Verwunderung reibt man sich die Augen, wenn sich in einer kleinen, alten Studie, herausgegeben von einer esoterischen Einrichtung des Freistaats Bayern, die Auskunft findet, dass chinesische Juristen spätestens während der T’ang-Zeit (im 7. bis 10. Jahrhundert unserer Rechnung) ganz ähnliche Regelungen in einem so genannten "Militärstrafgesetzbuch" erfassten, wie es ihre deutschen Kollegen in der jüngeren Vergangenheit taten.
Die Verwunderung weckt die Vermutung, dass es Juristen sein könnten, die mehr für das Interesse von Chinesen und Deutschen aneinander tun, als mancher von Wissenschafts wegen dazu berufener Sinologe. Zwar ist das eine allzu steile These, für die wir schon deshalb nicht den Vollbeweis antreten wollen, weil sich Doppelbegabungen finden (Juristen, die Sinologen sind). Aber für die Reisezeit liefert gute Lesekost selbst dann Stoff für den Anfangsverdacht, wenn der Weg nicht nach Fernost führt.
"wu zhong sheng you"
US-amerikanische Gerichtsfilme haben den Trick bis zur Karikatur wiederholt und variiert: In einem Geschworenenprozess um einen "Mord ohne Leiche" kündigt der Verteidiger an, das vermeintliche Opfer werde gleich durch die Saaltüre treten und die Unschuld des Angeklagten unter Beweis stellen. Die Neugier der Geschworenen wird er später im Plädoyer als Beleg für "berechtigte Zweifel" anführen.
Ob chinesische Richter sich davon bewegen ließen, darf bezweifelt werden, doch findet sich beim Schweizer Juristen und Sinologen Harro von Senger der passende Ausdruck für den Trick: "wu zhong sheng you" (in Sengers Transkription): "Aus einem Nichts etwas erzeugen."
Von Senger hat Hunderte solcher Beispiele für taktische List gesammelt und sie unter 36 zentralen "Strategemen" subsumiert, die Schöpfung einer Tatsache aus dem Nichts ist das Strategem Nr. 7. Ein elaboriertes Beispiel aus dem Justizwesen bringt von Senger zum Strategem Nr. 16, "Will man etwas fangen, muss man es zunächst loslassen". In einer 24-bändigen Sammlung von Kriminalgeschichten des Beamten Peng Peng, der unter der Herrschaft des Kaisers Kang Xi (1662-1722) in Henan ermittelt hatte, lässt Peng die Verdächtigen eines Gattenmordfalls nach erlittenem, aber erfolglosem Versuch der Aussageerpressung frei. Freigelassen betrinken sich die Verdächtigen im Gegenwert der Haft- bzw. Misshandlungsentschädigung in der nächsten Gastwirtschaft, wo sie – durch Alkohol und Freilassung erleichtert – die Tat gestehen.
Während wohl auch mancher deutsche Strafverteidiger die Senger'sche Strategemesammlung um eigene Räuberpistolen aktualisieren könnte, dürfte der wohl ungewöhnlichste Band sein, der in der Beck'schen Reihe von Kurzeinführungen in fremde Rechtssysteme erschienen und als solcher nicht erneuert worden ist: Sengers "Einführung in das chinesische Recht" machte 1994 den Versuch, die operative Praxis des Rechtsalltags in der Volksrepublik China mit den zentralen Leitlinien der Kommunistischen Partei zu verknüpfen – und diese wiederum mit dem jahrtausendealten Denken in Strategemen.
Hilfreich ist das vielleicht nicht, wem beim Chinaurlaub das All-inclusive-Essen nicht schmeckt und darum rechtliche Bedenken erheben will. Aber mehr juristische Exotik wird kaum zu finden sein.
Feldpostbriefe der chinesischen Vergangenheit
Zumindest muss man für mehr Exotik tief graben, um in den Veröffentlichungen einer etwas esoterischen Einrichtung des Freistaats Bayern fündig zu werden. Einem unverhofften Zufallsfund, wie oft bei publizierten, aber oft nie wieder gelesenen Schriften ist der Blick in Heft 5 der "Sitzungsberichte" der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse zu verdanken.
Der Sinologe Herbert Franke (1914-2011) veröffentlichte an diesem entlegenen Ort 1970 eine kleine Abhandlung "Zum Militärstrafrecht im chinesischen Mittelalter". Ihm zufolge existierte mit dem "T'ang-lü shu-i" das "älteste in seiner Gesamtheit erhaltene Strafgesetzbuch Chinas", entstanden zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert nach Christus, einer Zeit, in der hierzulande Kaiser Karl der Große bekanntlich noch das Buchstabieren übte und letztlich doch seinem Hofkaplan überlassen musste. Im 16. Kapitel enthält das Gesetz auch einen Katalog des Militärstrafrechts.
Bemerkenswert ist an diesen militärischen Strafnormen, die sich teilweise aus der Zeit vor Christi Geburt nachweisen lassen und als "eine ziemlich wirre Mischung verschiedenartigster Einzelvorschriften" (Franke) noch einige Jahrhunderte überdauerten, dass sie nicht nur den einfachen Soldaten in das Zentrum eines staatlichen 'Strafanspruchs' stellten, sondern gerne auch die kommandierenden Offiziere. § 1 des T'ang-Militär-StGB sah etwa vor, dass der Offizier, der eigenmächtig neun oder mehr Soldaten zum militärischen Einsatz verwendete, mit einem Jahr Haft bzw. Verbannung zu bestrafen sei. 18 Monate standen auf den eigenmächtigen Einsatz von mehr als 100 Soldaten, ab 1.000 eingesetzten Soldaten "wird der Schuldige erdrosselt".
"Bei drei Tagen … wird er enthauptet."
Im Ergebnis grauslich, in der lakonischen Sprache eher bizarr mutet die häufige Strafandrohung für alles und jedes an: Verspätet sich ein Soldat um einen Tag zum Feldzug, erhält er 100 Stockschläge. "Bei drei Tagen … wird er enthauptet."
Ziehen sich ein höherer General oder vorgesetzter Offizier als erste vor dem Feind zurück, "so werden sie enthauptet". Nach dem Militärstrafgesetzbuch der Sung, § 1: "Wer militärische Angelegenheiten nach außen dringen läßt oder Parolen nach außen bekannt werden läßt, wird enthauptet." Auch der Soldat des chinesischen Mittelalters, der sich der Wehrpflicht durch Selbstverletzung zu entziehen versuchte, "wird enthauptet".
Ist das eigentlich exotisch, so viel "enthaupten"? Die Sprache dieser sinologischen Übersetzung altchinesischer Militärstrafgesetze wirkt merkwürdig – so erhaben und nüchtern. Das liegt vielleicht am umgekehrten "Tarzan"-Effekt. Alte Filme, in denen der "Wilde" nicht nur Jonny Weismuller ans Leder will, sondern auch ein paar Sätze in einer Sprechrolle aufsagt, hören sich ja oft rassistisch an: In der Synchronisation wird einfach Wort für Wort aus der afrikanischen Sprache übersetzt, während man den Satzbau original belässt. Das klingt schon schwer idiotisch.
Bei Übersetzungen aus ostasiatischen Sprachen machen sich möglicherweise Europäer dümmer als sie sind: Philosophische Traktate japanischer Teehausintellektueller oder – wie hier – mittelalterliche Militärstrafgesetze werden in ein "erhabenes" Deutsch übersetzt. Man wüsste gern, wie viel yogaphilsophische Großstadtesoterik dieser künstlichen Erhabenheit zu verdanken ist.
Man kann, Zugang zu juristischen Texten vorausgesetzt, dem umgekehrten "Tarzan-Effekt" entgehen, wenn man in diesem Fall parallel der juristischen Beinahe-Gegenwart ins Auge blickt. Erich Schwinge (1903-1994), seinerzeit Kriegsgerichtsrat und später Professor für Strafrecht in Marburg, kommentierte 1943 das deutsche Militärstrafrecht inklusive der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. Der Suche nach dem Kommentar war der Zufallsfund von Frankes sinologischem Strafrechtsaufsatz zu verdanken. Bei Schwinge nun im Ergebnis: Auch der deutsche Soldat, der sich dem Krieg durch Selbstverletzung zu entziehen versuchte, wurde oft "enthauptet". Das vertreibt den Exotismus und die Erhabenheit erst recht.
Lob der juristischen Kunst-Exotik
Angesichts der nüchternen Ergebnisse möchte man die künstliche Fremd-Machung der profanen Realität fast nicht mehr verteidigen, gäbe es da nicht Herbert Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit". Mittels einer fehlgesteuerten Zeitmaschine gerät ein Mandarin aus der Zeit der T'ang ins München der 1980er-Jahre.
Dieser zeitreisende Beamte Kao-Tai berichtet einem Freund in der fernen Vergangenheit brieflich über seine Abenteuer. Zu den ersten Eindrücken, die Rosendorfer – selbst lange Jahre Richter in bayerischen Diensten – seine Figur machen lässt, zählen die "finsteren, ranzig riechenden Gänge" einer Behörde. Polizeipräsidium und chinesisches Gefängnis, vor 1.000 Jahren und heute – überall riecht es gleich scheußlich, sauer.
Die literarische Technik, einen fiktiven Reisenden aus fernen Ländern über die Missstände der Gegenwart berichten zu lassen, hat – natürlich – ein Jurist erfunden, der französische Richter und Philosoph Montesquieu (1689-1755). In den "Persischen Briefen" wundert sich ein orientalischer Gast über die Verfassungsprobleme Frankreichs.
Sollte sich die Verwunderung der Exoten, ob literarisch erfundener oder leibhaftig reisender, auf den Geruch von Polizeipräsidien beschränken – man wollte an einen Fortschritt glauben.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Recht auf Reisen: China: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6720 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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