3/3: Bescheidenes Lob der Gewalt
Gewalt ist juristisch eigentlich eine gute Sache, solange sie von Rechts wegen verübt wird. Ohne Staatsgewalt wären zum Beispiel Verfassungsgerichtsurteile zu lesen, wie es mancher Polizeigewerkschaftsfunktionär wohl gerne hätte, also als unverbindliche Moraltraktate. Vielleicht hat das der gewöhnliche Anwalt auch nicht so im Ohr, schließlich plädiert er selten in Karlsruhe.
Mag auch sein, dass die endlosen Überdrehungen des Gewaltbegriffs im Strafrecht zu seiner schwindenden Popularität beigetragen haben: Wer "Sitzen als Gewalt" definiert, muss Nichtjuristen arg viel erklären. Und wann haben schon Strafverteidiger Gelegenheit, friedensbewegte Kasernenblockierer zu vertreten?
Dass der Begriff der "Gewalt" nicht den positiven Klang hat, den er in Juristenohren haben sollte, dürfte aber vor allem an der sprachkulturellen Verwirrungsarbeit des Gesetzgebers liegen. Heute findet sich das Wort "Gewalt" im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ja vor allem in Sphären, die jeder menschlichen Verantwortung entzogen sind, als "höhere Gewalt" etwa, von der man in anderen Ländern lyrisch als "Act of God" spricht. Weitere Gewalt-Reste finden sich im Recht der Besitzverhältnisse.
Ein Recht ohne Liebe und die gute, alte Gewalt
Dabei hatte der historische Gesetzgeber, als er das BGB ins Reichsgesetzblatt brachte, doch einen viel abstrakteren, weiteren und auch positiven Gewaltbegriff. Um nur § 4 BGB in der Fassung vom 1. Januar 1900 zu zitieren, es geht um die vorzeitige Volljährigkeit noch nicht 21-jähriger Personen:
"(1) Die Volljährigkeitserklärung ist nur zulässig, wenn der Minderjährige seine Einwilligung ertheilt.
(2) Steht der Minderjährige unter elterlicher Gewalt, so ist auch die Einwilligung des Gewalthabers erforderlich, es sei denn, daß diesem weder die Sorge für die Person noch die Sorge für das Vermögen des Kindes zusteht. Für eine minderjährige Wittwe ist die Einwilligung des Gewalthabers nicht erforderlich."
Mit der Reduzierung des Volljährigkeitsalters auf 18 Jahre wurde diese Norm aufgehoben, in anderen Zusammenhängen tauschte der Gesetzgeber der 1970er- und 1980er-Jahre die "elterliche Gewalt" leider gegen die farblose "elterliche Sorge" aus.
Das war gut gemeint, stahl dem Juristen aber seinen guten, alten Gewaltbegriff. Damit geht ein Verlust an juristischem Realismus einher. Der ostpreußische Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) konnte beispielsweise noch den Ehevertrag als ein Rechtsverhältnis beschreiben, das notwendig sei, "wenn Mann und Weib einander ihren Geschlechtseigenschaften nach wechselseitig genießen wollen" ("Geschlechtsgemeinschaft … ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht…").
Mit so eindeutigen Worten war beschrieben und ist bis heute jedem Juristen und jeder Juristin klar, dass es im Ehe- und Familienrecht letztlich um Vermögensfragen geht, sogar um "wechselseitigen Gebrauch" höchstpersönlicher Mittel. Klar ist selbst im Beispiel des Jahres 1900: Ein Kind ist zwar kein Eigentum, die Klärung seiner Verhältnisse geschieht aber doch bis heute weitgehend in possessiven Kategorien: Wann hat es unter der Aufsicht von wem wo zu sein? Man spricht es nur heute nicht mehr so deutlich aus.
Auch dass etwa "Liebe" kein Rechtsbegriff ist, müsste man nicht erklären, wäre "Gewalt" als die ehrliche Vokabel in der possessiven Regulierung auch ehe- und familienrechtlicher Fragen nicht durch "Sorge" ersetzt worden.
Ihr ganzes Leben immer nur verstanden worden
Matthias Beltz (1945-2002), der an Carl Schmitt geschulte Kabarett und nur durch die Weltrevolution von 1968 am Rechtsreferendariat gehinderte Spötter, erklärte manches Problem zarter Kinderseelen in der friedfertigen Bundesrepublik so: "…und mit 18 müssen sie dann zum Therapeuten, weil sie ihr ganzes Leben immer nur verstanden worden sind."
Dagegen wird hoffentlich auch noch in Zukunft die Juristenausbildung helfen.
Denn mich freut es ja – als der vergleichsweise kleinwüchsige Straßenbahn-Nutzer, der ich bin – wenn sich großgewachsene Jungjuristen gegen die eingangs angezeigten Nachwuchsverbrecher mit ihren Straßenkotschuhen zur Wehr setzen. Das Recht muss dem Unrecht nicht weichen. Scharfkantiges Juristendeutsch und ein freundliches Verständnis für die sprachlich legitimierte Staatsgewalt helfen jedenfalls jungen Juristen ganz sicher bei der Verteidigung der Rechtsordnung.
Das will ich keinesfalls durch zu viel "Gewaltfreie Kommunikation" forttherapiert sehen.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7910 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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