Juristische Grenzwissenschaften: Ein bescheidenes Lob der Gewalt

von Martin Rath

06.01.2013

Konflikte durch politische Machtkämpfe und an ihrem Ende durch rechtsförmige Befehle einer Behörde oder eines Gerichts zu klären, ist merkwürdig unpopulär geworden. Statt dessen wird immer öfter ihre Mediation verlangt. Das geht vom schwäbischen Bahn- bis zum gesamtdeutschen Schulhof. Als wichtiges Hilfsmittel gilt die sogenannte "Gewaltfreie Kommunikation". Nicht mit mir, meint Martin Rath.

Straßenbahnnutzer kennen die Situation. Ermattet von der brutalen Anstrengung, vier oder fünf Stunden in einer öffentlichen Schule erlebt zu haben, besteigen junge Menschen den Waggon. Soweit es die Raumsituation zulässt, wandert erst der eine regennasse Turnschuh auf den gegenüberliegenden Sitzplatz, dann der andere. Der unbefangene Beobachter erkennt, dass hier von Anstandsregeln unbefleckte Menschen eine bequeme Haltung beim SMS-Tippen suchen oder einfach nur lässig aussehen müssen. Juristisch geschulte Fahrgäste ärgern sich über den Verstoß gegen die Beförderungsrichtlinien sowie darüber, dass  die fahrlässige Sachbeschädigung fremder Kleidung durch Straßenkot kaum je einen Richter finden wird.

Wer glaubt, seinem Unmut Luft machen zu sollen, etwa mit dem barschen Hinweis, dass ein solches Verhalten schlichtweg widerlich und der Schmutzfüßler kriminell rücksichtslos sei, wird in erstaunte Augen blicken. Leider beruht das Unverständnis nicht auf bloßem Unverstand. Der Einsichtsmangel kann regelmäßig einen Grund haben – in Gestalt einer Doktrin, die hierzulande als "Gewaltfreie Kommunikation" bekannt geworden ist, längst ihren Weg in die Lehrerausbildung gefunden hat und in diesem Fall lehrt, dass der belästigte Fahrgast seinen Unmut nicht durch direkte aggressive Äußerungen kundtun sollte.

Nun wird auch für die Jurisprudenz vermehrte Mediation gefordert. Als Konterbande könnte sie die "Gewaltfreie Kommunikation" weiter verbreiten helfen. Denn sollten Juristen über allzu viel Vermittlungsarbeit ihre Tradition vernachlässigen, Konflikte nach alter Robenträger Sitte auszutragen – ob im harschen rhetorischen Schlagabtausch oder in den zarten Schmelz sanft-aggressiver Schriftsätze gehüllt – droht die "Gewaltfreie Kommunikation" auch eine der Wurzeln des Rechts zu zersetzen. Doch bevor diese zugespitzte These verteidigt wird, zunächst die Frage:

Was ist "Gewaltfreie Kommunikation" überhaupt?

Man sollte annehmen, "Gewaltfreie Kommunikation" sei schlicht eine Diskussion, deren Teilnehmer sich weder schlagen noch ihre Standpunkte mit anderen als rhetorischen Waffen ausfechten – ein Gespräch also, bei dem niemand an die §§ 223 ff. Strafgesetzbuch (StGB) denken müsste. Das ist natürlich juristisch und daher ausnahmsweise zu einfach gedacht.

Bei der "Gewaltfreien Kommunikation", von ihren Anhängern oft auch nur kurz "GFK" genannt, handelt es sich vielmehr um eine Doktrin, die zuerst vom US-amerikanischen Psychologen Marshall B. Rosenberg (geb. 1934) propagiert wurde – als "machtvolles Instrument" zum Umgang mit Konflikten vom völkerrechtsrelevanten Gewaltverhältnis bis zur Auseinandersetzung zerstrittener Eheleute. Seine Doktrin trug Rosenberg ein von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gestiftetes Ehrenamt ein. Diese hatte für die Jahre 2001 bis 2010 eine "Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltfreiheit für die Kinder der Welt" ausgerufen – unter der Kuratel eines Gremiums, dem neben religiösem Führungs- und Jetset-Personal eben auch der Erfinder der "Gewaltfreien Kommunikation" angehörte. Es fragt sich, ob man derlei noch als völkerrechtsrelevantes Handeln sehen oder gleich zum Sarkasmus übergehen will.

Das "Hauptwerk" Marshall B. Rosenbergs ist zwar erst 2011 in deutscher Sprache unter dem Titel "Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens" [sic!] erschienen, fand aber zuvor schon breite Wahrnehmung durch die kleinteiligen Distributionsverfahren der Erwachsenenbildung, Friedenspädagogik und – nicht zu vergessen – der mählich wachsenden Mediationsbranche.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristische Grenzwissenschaften: . In: Legal Tribune Online, 06.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7910 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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