"Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel": 700 Fristen, die man vergessen darf

von Martin Rath

29.12.2013

2/2: Kondensierte Sozialgeschichte

Manche Fristen und Zeiten sprechen für sich selbst, beispielsweise der Eintrag zu "Arbeitsstunden in Fabriken:
1) für Kinder unter 13 J. unzulässig,
2) für Kinder unter 14 J.: höchstens 6 St. tägl.
3) für junge Leute zwischen 14 u. 16 J.: höchstens 10 St. tägl.
4) für Arbeiterinnen über 16 J.: höchstens 11 St. tägl., an den Vorabenden der Sonn- u. Festtage: 10 St.,
5) für Wöchnerinnen während 4 W. nach Niederkunft unzulässig u. während der folgenden 2 W. nur nach ärztlicher Erlaubnis zulässig"

Rätselhafter dagegen schon das Stichwort zu Fristen bei "Dampf". Es verweist nicht etwa auf die Fabriken, in denen die Urgroßeltern heutiger Steampunk-Freunde damals höchstens zehn Stunden täglich arbeiteten, sondern auf ein bis zum Jahr 2002 einschlägiges Gewährleistungsproblem: "Dampf, Dämpfigkeit beim Verkauf von Pferden, Eseln, Mauleseln zur Nutzung oder Zucht: Hauptmangel mit Gewährleistungsfrist von 14 T." Gemeint sind mit "Dampf" Lungenemphyseme bei den nützlichen Vierbeinern, die Schuldrechtsreform 2002 räumte damit auf.

Beamte, zum Ruhestand sanft genötigt

Viele Fristen handeln vom Militär, überraschend wenige von Beamten. Nach der "Feststellung der Entschädigung" in "Rayonsangelegenheiten" stand z.B. der Rechtsweg "90 T. seit Empfang des Beschlusses" offen. Das ergab sich aus dem "Gesetz, betreffend die Beschränkungen des Grundeigenthums in der Umgebung von Festungen". Um den Feind vor den Mauern einer Festung mit Schüssen "bestreichen" zu können, waren Bauwerke ringsum militärischen Beschränkungen unterworfen. Friedhofssteine durften hier z.B. nicht senkrecht angelegt werden. Die dokumentierten Fristen betreffen hier den Ausgleich von Wertminderungen an Grundstücken in Festungsnähe.

Zu den Fristen des Militärrechts, die – anders als jene zur unerlaubten Abwesenheit oder Fahnenflucht – in Vergessenheit geraten sind, zählen jene zum "Einjährig-Freiwilligen": "Zum Dienst Berechtigte haben die Verpflichtung, sich spät. zum 1. Oktober d.J., in dem sie das 23. Lebensj. vollenden, zum Dienstantritt zu melden." Junge Männer konnten sich durch Schulbildung und Vermögen eine verkürzte Militärdienstzeit und Zugang zur Offizierslaufbahn verschaffen: Im Vergleich mit Abiturstress der Jahre vor 1914 – hing vom Ergebnis auch eine vergleichsweise angenehme Militärdienstzeit ab – dürfte jeder Prüfungsstress der Gegenwart ausgesprochen zivil ausfallen.

Frist- und andere Zeitangaben aus dem Beamtenrecht: Das "Gnadenquartal" bezeichnete jenes Vierteljahr, in dem den Hinterbliebenen von Reichsbeamten "die volle Besoldung des Verstorbenen" zufloss. Eine so wenig ruhmreiche Angelegenheit, dass man konkrete Fristen der Diskretion der Beteiligten überließ, war der "Ruhestand". 1903 kannte die deutsche Rechtsordnung, glaubt man dem Fristenbüchlein, nur die "(un)freiwillige Versetzung richterl. Militärjustizbeamten in den (Ruhestand)", der eintrat, "durch körperl. Gebrechen oder wegen Schwäche der körperl. oder geistigen Kräfte zur Erfüllung der Amtspflichten". Da wurde mit Fristvorgaben sanft genötigt, früher Ruhestand war offenbar wenig erstrebenswert.

Zeitverständnis statt Sprachkritik

Historische Fristen wirken oft possierlich: Zehn Tage nach der Ernte der Blätter waren die Tabakpflanzen zu vernichten. Für die Branntweinbrennerei legte die deutsche Rechtsordnung einst die "Einmaischungszeit" für "Oktober bis März von 6 morgens bis 10 Uhr abends, sonst von 4 bis 10 Uhr" fest, was nicht zuletzt dem Schlafbedürfnis von Finanzbeamten gedient haben wird. Dass Fahrkarten der Bahn nur "auf Abgangsstation bis 5 Min. v. Zugabfahrt" umgetauscht werden konnten, soweit sie noch nicht gelocht waren, zählt ebenso zu den vergessenen Fristen wie eine weitere bahnrechtliche Regelung: "Leichen, Abholung von, hat binnen 6 St. nach Zugankunft zu geschehen; sonst Beisetzung. Kommt die L(eiche) nach 6 Uhr abends an, so zählt die Abholungsfrist vom nächsten Morgen 6 Uhr ab". Da hat die Kühlkette der Bestattungslogistik den Spaten aus der Hand genommen.

Bemerkenswerter als alle Possierlichkeiten ist ein anderes Datum: Insgesamt kam die Sammlung von Fristen im Jahr 1903 auf vielleicht 700 Einträge. Sie erweckt den Anschein, einigermaßen vollständig die von Staats wegen vorgegebenen Fristen zu dokumentieren. Man darf zweifeln, ob ein ähnliches Werk heute noch zu leisten wäre.

Wenn die "Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel" von H. Körner seinerzeit in einer führenden juristischen Fachzeitschrift für die "Zeitersparniß, welche es dem Practiker gewährt" gelobt wurde, greift das zu kurz, denn mit "Practiker" meinte der namenlose Rezensent nur Juristen. Aufmerksamkeit verdient der weitgreifende Anspruch der Fristensammlung: "Ein Wegweiser für jedermann durch das ganze Gebiet der Gesetzgebung" wollte diese juristische "Zeittafel" sein.

Man hat sich daran gewöhnt, dass die Unverständlichkeit der Juristensprache kritisiert wird. Gegen die Masse gesetzlicher Normen zu polemisieren, ist so selbstverständlich geworden, dass selbst beim legendären Umfang des deutschen Steuerrechts kaum jemand stutzig wird.

Als Zielgröße für juristische Verständlichkeit dürfte das nützlicher sein als jede Kritik an Juristensprache und Normendurcheinander: 700 Fristen kennenlernen und das ganze Recht erfassen können.

Zitiervorschlag

Martin Rath, "Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel": . In: Legal Tribune Online, 29.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10479 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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