"Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel": 700 Fristen, die man vergessen darf

von Martin Rath

29.12.2013

Neben den Mönchen und den Uhrmachern machen Historiker die Juristen für die alltägliche Hektik verantwortlich. Strikt gegliederte Tages-, Wochen- und Jahresverläufe waren einst keine Selbstverständlichkeit – sie mussten erst von Rechts wegen etabliert werden. Dabei erfanden die Juristen Fristen, die noch heute gelten, aber auch solche, die längst vergessen sind. Ein Entspannungsbeitrag von Martin Rath.


Ein Nachtflugverbot hätten die Bürger der alten Reichsstadt Straßburg, heute Sitz mancher europäischen Zentraleinrichtung, wahrscheinlich ins Reich der Alpträume oder des Hexereirechts verbannt. Die Policeyverordnung der Stadt verbot es 1628 allerdings recht lebenspraktisch, abgesehen von lebensbedrohenden Notfällen, nach neun Uhr am Abend mit Pferd und Wagen durch die Stadt zu fahren. Für Ruhe und Ordnung sorgte das ganztägige Verbot von "Unfuegen vnnd Schwermereyen, auff den Gassen vnd an anderen Orten der Statt", während die "Nachtdäntz" ab sieben Uhr abends untersagt wurden, Gastwirtschaften hatten Sperrstunden am frühen Abend zu beachten.

Angesichts dieser gastronomieschädlichen Regelungen hätte man sich im 17. Jahrhundert den anwaltlichen Kraftausdruck: "Damit gehen wir bis nach Karlsruhe, und wenn die nicht helfen, bis nach Strasbourg!", wohl zweimal überlegt, zumal man das "Gehen" nach neun Uhr abends wörtlich nehmen musste.

Juristen etablieren Uhr- und Kalenderzeit

Aber im Ernst. Zu den großen historischen Erzählungen des Abendlandes gehört die Geschichte der Zeitordnung. Nicht erst beim Blick ins Fristenbuch, auf Papier oder elektronisch geführt, dürfen sich heutige Juristinnen und Juristen daran erinnert fühlen – zum Jahresende oder zwischendurch. Holzschnittartig formuliert geht die Geschichte so: Während der finstren Jahrhunderte des Mittelalters ordneten nur die Ordensleute in den Klöstern die (Tages-) Zeiten strikt: Ora et labora, das Gebet diente auch als Zeit-Messinstrument. Erst ab dem 16. Jahrhundert stellten die Uhrmacher immer bessere Uhrwerke zur Verfügung. Das Narrentum der Taschenuhren kam, aus Kostengründen, weit weniger schnell übers Volk als jenes der Mobiltelefonie heute.

Die juristischen Beamten der frühneuzeitlichen Städte und Fürstenhöfe brachten die stundengenaue Zeitabrechnung über Land und Leute. Am Anfang stand die Pflicht der Gemeinden, eine zentrale Uhr zu installieren. Auf die Technik folgten die juristischen Verordnungen darüber, was alles nach der Uhr zu regeln war. Tag- und Nachtzeiten, für die uhrenlose Gesellschaft bis dahin eine Ansichtssache des Tageslichts, wurden zur rechtlichen Angelegenheit: Ging der zur Fronarbeit verpflichtete Bauer vor dem Glockenschlag vom Feld, wurde dies als eine Art Diebstahl jener Zeit definiert, die seinem Grundherrn zustand. Umgekehrt wollten die Juristen den Bauern auch nicht zu spät auf dem Acker sehen: Nächtliche Aufenthalte in Forst und Flur galten als Indiz für Wilderei und Holzdiebstahl.

Wenn sich heutige Juristinnen und Juristen, zum Jahresende vielleicht ganz besonders, Gedanken über einzuhaltende Fristen machen, kurz vor Mitternacht vor Faxgeräten stehen oder sich vor den Nachtbriefkästen der Gerichte tummeln – folgt man Blogs mancher Anwälte, ist beides offenbar ein beliebter Juristensport – könnte man das für eine Form ausgleichender Gerechtigkeit halten. Vielleicht funktioniert Generationengerechtigkeit ja so.

Fristen, die man vergessen darf

Während es keine gute Idee ist, von Staats wegen Fristen zu vergessen, gibt es glücklicherweise eine Anzahl von Fristen, die man vergessen darf. Weil es den Staat, der sie verordnete, jedenfalls so nicht mehr gibt. Einem schmalen Bändchen aus dem Jahr 1903, der "Reichsrechtlichen Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel", entnehmen wir Fristen und andere Zeitordnungen, die von Rechts wegen in Vergessenheit geraten sind.

An italienische Lebensart erinnert beispielsweise ein Eintrag zum Stichwort "Vogelschutz". Hier heißt es, dass "das Fangen u. Erlegen von Vögeln mit Leim, Netzen, Schlingen u. Waffen zur Nachtzeit" verboten ist, wobei das Fristenbüchlein "Nachtzeit" hier definiert als "die Zeit, die eine St(unde) vor Sonnenuntergang beginnt u. 1 St(unde) vor Sonnenaufgang endet". Hingewiesen wird auf das Verkaufsverbot von Wildvögeln zum Verzehr zwischen dem 1. März und 15. September. "Nachtzeit" wurde 1903 mindestens vier Mal anders definiert: strafprozessual, vogelschutzrechtlich, weinrechtlich und branntweinrechtlich.

Fremd erscheint heute auch die "Anzeigefrist bei Zuckerfabriken": Die "erstmalige Betriebseröffnung ohne Rübenbearbeitung" sowie "jede Betriebsperiode bei Rübenbearbeitung" waren Wochen, die sechs Wochen vorher den Behörden angezeigt werden mussten. Hintergrund war die 1992 abgeschaffte Zuckersteuer.

Zitiervorschlag

Martin Rath, "Reichsrechtliche Verjährungs-, Fristen- u. Zeittafel": . In: Legal Tribune Online, 29.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10479 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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