Neofeudale Normgebungspraxis statt des guten alten Gesetzgebungsstaats
Die Rechtswissenschaft habe hingegen am "Gesetzgebungsoutsourcing" nach Art des Guttenberg-Linklaters-Vorgangs einiges auszusetzen. Nicht nur, dass der Vorgang noch nicht einmal auf der Ebene des Geschäftsordnungsrechts geregelt sei. Auch führe das Outsourcing zur Verletzung materieller Grenzen, denn: "Eine dem Gemeinwohl verpflichtete Ministerialbürokratie wird aus solchen Kontakten nützliche Informationen für die Gesetzgebung gewinnen, sich jedoch nicht die Federführung aus der Hand nehmen lassen. Gleiches gilt für die Einberufung von Sachverständigengremien für die Erarbeitung von Gesetzentwürfen."
Dem Staatsvolk sei es, so Meßerschmidt, bereits schwer zu vermitteln, dass die Ministerialbürokratie statt des Parlaments die Hauptarbeitslast des Gesetzgebungsprozesses trage – nicht mehr nachvollziehbar wäre es aber, wenn "eine tausende von Mitarbeitern zählende Verwaltung quantitativ oder qualitativ hierfür ebenfalls nicht ausreiche". Für das demokratische Publikum würde damit das "alteuropäische Stück Gesetzgebungsstaat aufgeführt, während hinter den Kulissen private Regulierungsmanager interessengeleitete Transfergesetzgebungen auf den Weg bringen".
Derzeit versuchen sich die zentralen politischen Akteure durch Selbstregulierung etwaig beteiligter Lobbyisten ("Governance") und mittels Transparenzpflichten aus der Gefahrenzone einer neofeudalen Normsetzungspraxis zu bewegen.
Gut möglich, dass Experten für das mittelalterliche Lehnsrecht bei der Pflege der neu entstehenden Lobbyistenregister der Demokratie einen Dienst erweisen könnten. Schließlich sollten sie, wie es der Bericht des Greifswalder Historikers Spieß andeutet, eine Spürnase dafür haben, wann eine Dokumentation von Machtverhältnissen in reinem Formalismus erstarrt – während die Musik ganz woanders spielt.
Straftäter verurteilen? Viel zu teuer für das Opfer im 19. Jahrhundert in England
Der "Warnruf" des Ö-Rechtlers Meßerschmidt vor dem möglichen "Hoflieferantentum" in einer outgesourcten Gesetzgebung wird ein wenig relativiert durch ein schönes historisches Beispiel, in dem der junge US-amerikanische Ökonomieprofessor Mark Koyama zeigt, wie sich gleichsam feudale Verhältnisse im Rechtssystem in moderne Verwaltungsstrukturen transformierten – dank der Kraft von Marktmechanismen.
Unter dem Titel "Prosecution Associations in Industrial Revolution England: Private Providers of Public Goods?" stellt der Ökonom Koyama rechtshistorische Recherchen in englischen Archiven vor (The Journal of Legal Studies 2012, S. 95-130). Weil staatliche Polizeibehörden weitgehend fehlten, war es im englischen System den Opfern von Straftaten bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum möglich, zu vertretbaren Kosten die Verfolgung von Kriminellen zu betreiben. Beispielsweise kostete – und dies war noch ein preiswertes Verfahren – die Verurteilung eines gewissen Thomas Mills im Jahr 1829 mehr als 6 £ 6 Shilling, die unter anderem für die Fahndung, Inhaftierung, Haft- und Prozesskosten privat vorzufinanzieren waren.
Den Verurteilungkosten von gut 6 £ stand ein Pro-Kopf-Volkseinkommen von rund 24 £ gegenüber. Teurere Verfahren waren zwischen 20 und 50 £ zu veranschlagen. Für den einzelnen Geschädigten waren solche Beträge nicht zu tragen, es entspräche grob geschätzt zwischen 8.000 und 60.000 Euro, die ein deutsches Tatopfer heute privat zu zahlen hätte, bevor ein Beschuldigter strafrechtlich abgeurteilt wäre.
Polizei erst nach dem Herrenclub in Great Britain
Die britische Lösung bestand im Herrenclub, genauer gesagt in "Prosecution Associations" – einer Mischung aus Wach- und Schließgesellschaft und Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit. Zwischen 1750 und 1850, die Industrialisierung schuf viel armes Stadtproletariat und die standardisierten Produkte ließen sich leichter stehlen und hehlen, existierten schätzungsweise rund 4.000 Prosecution Associations.
Wegen der ökonomischen Rahmenbedingungen von Kriminalitätsbekämpfung waren diese Gesellschaften allerdings nicht unbedingt langlebig: Wenn Geschäftsleute für teures Geld Wachleute anheuerten, schufen diese ja nicht nur Sicherheit für ihre Auftraggeber, sondern gleich für den ganzen Straßenzug. Ökonomen sprechen hier von Trittbrettfahrer-Effekten: Wer nicht in die Kasse der Prosecution Association einzahlte, kam dennoch in den Genuss ihrer Leistungen.
Schließlich legten die Gesellschaften bei allem – philanthropischen, am Gemeinwohl orientierten – Strafverfolgungsinteresse stets großen Wert darauf, dass ihre Mitglieder unbedingt die gerichtliche Aburteilung gefasster Täter betrieben: Einzelne Geschädigte waren natürlich stets der Versuchung ausgesetzt, es bei der Rückübertragung von Raub- und Diebesgut zu belassen, hatte man den Täter erst.
Ökonomische Gesetzmäßigkeiten wie diese waren es schließlich, die in Großbritannien dazu führten, ab den 1830er-Jahren eine moderne Polizei mit öffentlichem Strafverfolgungsauftrag zu etablieren, während die englische Gerichtsverfassung lange in mittelalterlich-feudalen Strukturen verharrte.
Von Staatlichkeit singen oder sie durchrechnen?
Die eingangs herbeigerufene Horrorgeschichte ist unter anderem deshalb etwas idiotisch, weil der scheinbar allmächtige böse Geist "Azazel" ausgerechnet in Alt-Aramäisch spricht. Da versteht ihn doch heutzutage kaum jemand.
Es mag sein, dass der von Leisner beschworene Staats-Geist durch Zeit und Raum schwebt. Unwahrscheinlich ist es aber, dass er sich in der lateinischen Dichtung des Vergil äußert. Denn Latein dürfte auch unter Juristen bald so flüssig verstanden werden wie Alt-Aramäisch.
Viel wahrscheinlicher regelt sich die "geheime" Mechanik von Staat und Gesellschaft nach ökonomischen Regeln. Das hätte wenigstens den Vorteil, dass sich derzeit viele jedenfalls bemühen, sie zu verstehen.
Martin Rath, Recht frech / Eine etwas andere Literaturübersicht: . In: Legal Tribune Online, 11.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7511 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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