Im Jahr 1761 kommt es in der Familie eines angesehen Kaufmanns aus Toulouse zu einem Suizid, der sich vor dem Hintergrund eines religiösen Fanatismus zu einem handfesten Justizskandal ausweitet. André Niedostadek erinnert an die "Affäre Calas", die heute vor 250 Jahren ihren Lauf nahm und sogar einen der berühmtesten französischen Zeitgenossen auf den Plan rief: Voltaire.
Es ist der 13. Oktober 1761. Unter den Großmächten Europas tobt noch der Siebenjährige Krieg, als sich in der südfranzösischen Stadt Toulouse ein Vorfall ereignet, der den Stein ins Rollen bringt für einen der auch heute noch bekanntesten Justizirrtümer. Der Schriftsteller und Diplomat Friedrich Melchior Baron von Grimm wird einige Jahre später dazu schreiben: "Ich zweifle, dass es in der Geschichte eine beklagenswertere Greueltat gibt, als die, die kürzlich in Toulouse begangen wurde".
Das Datum wird zu einem Schicksalstag für die Familie Calas. Jean Calas, 63 Jahre, ist ein durchaus angesehener protestantischer Kaufmann und Tuchhändler, der mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern schon seit vielen Jahren in Toulouse lebt. Nach einem gemeinsamen Essen mit der Familie und einem Gast zieht sich der älteste Sohn, Marc-Antoine, plötzlich zurück. Einige Zeit später findet man ihn erhängt auf. Wohl in einem Zustand der Depression hatte er offenbar keinen anderen Ausweg gesehen, als sich selbst das Leben zu nehmen.
Die genauen Umstände und Hintergründe dafür lassen sich heute nicht mehr rekonstruieren. Vermutet wird, dass Marc-Antoine Calas, ein Schöngeist, sich weder zum Kaufmann berufen fühlte, der erfolgreich in die Fußstapfen seines Vaters hätte treten können, noch als Protestant die Chance hatte sein juristisches Studium erfolgreich abzuschließen.
Ein religiös motivierter Mord?
Mit dem Freitod des Sohnes nimmt das Drama seinen verhängnisvollen Lauf. Denn ein Selbstmord gilt nicht etwa – wie im alten Rom – als Ausdruck von Tugendhaftigkeit und Ehre. Selbstmörder erwarten vielmehr inmitten der Aufklärung ein so genanntes Eselsbegräbnis: Sie werden nach alttestamentarischer Sitte an verschmähten Orten in ungeweihter Erde – regelmäßig auf dem Schindanger – verscharrt (Jeremia 22.19: "Er soll wie ein Esel verscharrt werden, geschleift und hinausgeworfen vor die Tore Jerusalems"). Ob Jean Calas das seinem Sohn ersparen möchte und daher angibt, er habe ihn ermordet aufgefunden? Bald schon macht jedenfalls das Gerücht die Runde, der Sohn sei umgebracht worden. Von den Personen, die sich zur angeblichen Tatzeit im Hause aufgehalten haben, gerät vor allem einer unter Verdacht: Der Vater selbst, Jean Calas.
Das vermeintliche Motiv für die Tat ist schnell gefunden. Calas habe seinen Sohn daran hindern wollen, zu konvertieren. Der sei ebenso wie zuvor schon einer seiner Brüder im Begriff gewesen zum Katholizismus überzutreten – sehr zur Verärgerung des Vaters. Calas wird verhaftet und verhört. Ein unter Folter erzwungenes Geständnis wird von ihm sogleich widerrufen.
Doch all das hilft ihm nicht mehr. Die Würfel sind bereits gefallen: Jean Calas wird zum Tod durch das Rad verurteilt - einer besonders brutalen Hinrichtungsmethode, bei der dem Delinquenten vor dem eigentlichen Tod mit einem Richtrad, bisweilen auch einfach einer Eisenstange, meist von den Beinen aufwärts die Knochen gebrochen werden. Das Vermögen wird kurzerhand eingezogen, ein weiterer Sohn verbannt und die Töchter werden in Klöster gesteckt. Doch damit ist die Akte Calas selbst noch nicht geschlossen.
Voltaire setzt sich für die Rehabilitierung ein
Schon kurz nach den Ereignissen erfährt eine einflussreichsten französischen Persönlichkeiten von alledem: Voltaire. Der hatte selbst ein halbes Jahrhundert zuvor (wohl unter dem Druck des Vaters, einem Gerichtsgebühreneintreiber) ein Jurastudium absolviert ohne jedoch daran wirklichen Gefallen zu finden. Stattdessen machte er sich mit spitzer Feder und belletristischen, historischen, naturwissenschaftlichen, theologischen und philosophische Schriften einen Namen.
Daneben pflegte er nicht nur vielfältige Beziehungen mit den Königshöfen jener Zeit, sondern auch seine diversen Liebschaften. Und er scheute nicht davor zurück, sich einzumischen, auf Konfrontation zu gehen und sich dadurch so manchen Ärger einzuhandeln - was ihn gleich mehrfach in Ungnade fallen ließ und Erfahrungen im Gefängnis einbrachte.
Als sich Voltaire des Falls "Calas" annimmt und dazu gewissermaßen den zweiten Akt verfasst, ist er selbst bereits fast siebzig Jahre. Zunächst publiziert er 1763 als Reaktion auf den letztlich religiös motivierten Justizmord ein Plädoyer für die Toleranz ("Traité sur la tolérance 1763 à l`occasion de la mort de Jean Calas"). Dann gelingt ihm großem Engagement das scheinbar Aussichtslose: 1764 kommt es zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, in welchem Jean Calas posthum freigesprochen und damit rehabilitiert wird. Für Voltaire bleibt es übrigens nicht das einzige Engagement. In weiteren Verfahren setzt er sich für unschuldig Verurteilte ein und verfasst dazu erneute Schriften. Nicht zuletzt mit seinem Appell für mehr Rechtstaatlichkeit gilt er heute als Wegbereiter der französischen Revolution.
Der Autor Prof. Dr. André Niedostadek lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz.
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André Niedostadek, Die "Affäre Calas": . In: Legal Tribune Online, 13.10.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4544 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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