80 Jahre Ausweispflicht: Wie ein Nazi-Minister den Über­wa­chungs­staat durch­setzte

von Martin Rath

22.07.2018

Mit der "Verordnung über Kennkarten" vom 22. Juli 1938 wurde in Deutschland eine erste allgemeine Ausweispflicht etabliert. Für Martin Rath der Beginn eines überwachungsstaatlichen Moedells, das seitdem nur erweitert wurde.

Es ist ein etwas unbehaglicher Gedanke, dass man die Antwort auf die Kinderfrage, warum erwachsene Menschen hierzulande einen Ausweis bei sich führen müssen, eher beim nationalsozialistischen Reichsinnenminister Dr. iur. Wilhelm Frick (1877–1946, hingerichtet) finden wird als etwa beim prominenten Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). Dabei hinterließ der zum Recht der menschlichen Mobilität auf dem Erdenrund einige bedenkenswerte Überlegungen.

Ein Blick ins Reichsgesetzblatt (RGBl.) zeigt, dass in einer Gegenüberstellung des verurteilten Kriegs- und Menschheitsverbrechers einerseits mit dem großen Philosophen der Aufklärung andererseits weniger polemische Zuspitzung liegt, als man zunächst glauben mag.

Denn mit der "Verordnung über Kennkarten" vom 22. Juli 1938 und drei Bekanntmachungen am folgenden Tag, zu deren Erlass der Reichsinnenminister durch Gesetz vom 11. Mai 1937 allein ermächtigt worden war, wurde ein überwachungsstaatliches Modell durchgesetzt, dass seither nie wieder grundsätzlich in Frage gestellt, sondern vielfach erweitert und technisch verfeinert wurde (RGBl. I, S. 913–915 und 921–922).

Staat verlangt Passfoto, Fingerabdruck und Unterschrift

Mit der "Verordnung über Kennkarten" wurde bestimmt, dass "alle deutschen Staatsangehörigen mit Wohnsitz oder dauerndem Aufenthalt im Reichsgebiet vom vollendeten 15. Lebensjahr" eine Kennkarte erhalten können (§ 1 Abs. 2) und der Reichsinnenminister Gruppen von deutschen Staatsangehörigen bestimmen werde, die einem Kennkartenzwang unterliegen (§ 1 Abs. 3).

Der "Kennkartenbewerber" hatte der Passbehörde auf "Verlangen alle Angaben zu machen und alle Nachweise zu erbringen, die erforderlich sind, um seine Person und seine deutsche Staatsangehörigkeit einwandfrei festzustellen" (§ 3 Abs. 2). Auf der Kennkarte und ihrem Doppel, das bei der Behörde verblieb, wurden u. a. die drei seinerzeit kriminalistisch einschlägigen Identitätsmerkmale festgehalten: das Bild des Gesichts, die Fingerabdrücke sowie die Unterschrift.

Indem § 4 der Verordnung feststellte, dass die Kennkarte nur ausgestellt werden dürfe, "wenn die Person und die deutsche Staatsangehörigkeit des Kennkartenbewerbers einwandfrei festgestellt ist", betonte sie im Jahr 1938 noch keine Selbstverständlichkeit – worauf zurückzukommen sein wird.

Verstöße, beispielsweise falsche Angaben beim Kennkartenantrag, die Überlassung der Kennkarte an einen anderen oder die Annahme einer fremden Kennkarte zum Gebrauch bedrohte § 13 der Verordnung mit Haft- oder Geldstrafe bis zu 150 Reichsmark, in schweren Fällen mit Gefängnis bis zu einem Jahr.

Pflicht für Männer, Grenzgänger und Juden

Eine Pflicht, die Kennkarte bei sich zu führen, ergab sich aus der Verordnung vom 22. Juli 1938 nicht. Ein System des Kennkartenzwangs etablierten aber drei Bekanntmachungen am Tag darauf.

Die erste Bekanntmachung über den Kennkartenzwang vom 23. Juli 1938 verordnete, dass männliche deutsche Staatsangehörige eine Kennkarte "innerhalb der letzten drei Monate vor Vollendung ihres 18. Lebensjahrs (Eintritt in das Wehrverhältnis)" beantragen mussten.

Damit wurde die Erfassung der jungen Männer für den Kriegsdienst zur Durchsetzung der Kennkartenpflicht mitgenutzt. Auf Verlangen hatten sich die Wehrpflichtigen "über ihre Person durch ihre Kennkarte auszuweisen", allerdings mit der bemerkenswerten Einschränkung auf den "dienstlichen, das Wehrpflichtverhältnis betreffenden Verkehr" mit den einschlägigen Behörden (§ 2).

Die zweite Verordnung über den Kennkartenzwang gab u.a. vor, dass künftig nur noch Besitzer einer Kennkarte einen Ausweis für den kleinen Grenzverkehr erhalten durften.

Mit der dritten Bekanntmachung wurde schließlich die weitreichendste Kennkartenpflicht eingeführt: "Juden …, die deutsche Staatsangehörige sind, haben unter Hinweis auf ihre Eigenschaft als Jude bis zum 31. Dezember 1938 bei der zuständigen Polizeibehörde die Ausstellung einer Kennkarte zu beantragen. Für Juden, die nach dem Inkrafttreten dieser Bekanntmachung geboren werden, ist der Antrag innerhalb von drei Monaten nach der Geburt zu stellen" (§ 1).

§ 2 verpflichtete Juden über 15 Jahren, die eine Kennkarte erhalten hatten, sich jederzeit "auf amtliches Erfordern" mit ihr auszuweisen. Dies erweiterte § 3 noch um die Pflicht, bei jedem Antrag an eine staatliche oder eine Dienststelle der NSDAP "unaufgefordert auf ihre Eigenschaft als Jude hinzuweisen sowie Kennort und Kennnummer ihrer Kennkarte anzugeben". Gleiches galt auch bei persönlichem Erscheinen "für jede Art von Anfragen und Eingaben, die Juden an amtliche oder parteiamtliche Dienststellen richten". Handelten die Betroffenen den Vorschriften der "Verordnung über Kennkarten" zuwider, galt dies immer als "besonders schwerer Fall" unter Androhung von bis zu einem Jahr Gefängnisstrafe.

Die erste umfassende Pflicht für deutsche Staatsangehörige, einen Identitätsausweis zu besitzen und ihn Behörden bei jeder Gelegenheit vorzulegen, betraf also die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden definierten Menschen ab dem 15. Lebensjahr, wobei ihre Erfassung mit der Geburt einsetzte, sowie zum Kriegsdienst gemusterte junge Männer im Zusammenhang mit der Wehrüberwachung.

Finaler Bruch mit dem Zeitalter der Passfreiheit

Die Verordnung vom 22. Juli 1938 und die drei Bekanntmachungen brachen final mit einer etablierten Freiheit, die über weite Strecken nicht nur Staatsangehörige genossen hatten: mit der relativen Freiheit vor der Identitätsprüfung anhand amtlicher Papiere.

Als gleichsam programmatischer Maßstab für das Interesse des Staates an der Identitätsfeststellung darf das Gesetz über das Passwesen vom 12. Oktober 1867 (BGBl. S. 33) gelten – seine Aufhebung stellte das "Gesetz über das Paß-, das Ausländerpolizei- und das Meldewesen" vom 11. Mai 1937 vollständig ins Belieben des Reichsinnenministers.

Das Gesetz von 1867 hatte erklärt – nicht nur für Kontrollfetischisten aller Zeiten verblüffend –, dass "Bundesangehörige … zum Ausgange aus dem Bundesgebiet, zur Rückkehr in dasselbe, sowie zum Aufenthalte und zum Reisen innerhalb desselben keines Reisepapiers" bedurften (§ 1 Abs. 1).

§ 2 lautete: "Auch von Ausländern soll weder beim Eintritt, noch beim Austritt über die Grenze des Bundesgebietes, noch während ihres Aufenthalts oder ihrer Reisen innerhalb desselben ein Reisepapier gefordert werden."

Staatliche Zurückhaltung: bis nach dem Ersten Weltkrieg

In- wie Ausländer blieben zwar verpflichtet, "sich auf amtliches Erfordern über ihre Person genügend auszuweisen" (§ 3). Amtliche Pässe erleichterten das zwar, doch genügte z. B. dem wandernden Handwerksgesellen auch das Wanderbuch, dem Hauspersonal das Gesindebuch.

Eine erkennbar vermögende Person mochte ungeschoren ohne Pass von London bis Istanbul reisen, der berühmte Orientexpress warb damit, oder sich ins Gästebuch eines Hotels eintragen. Wem es an Mitteln fehlte, der lief freilich Gefahr, nach §§ 361, 362 StGB strafrechtlich verfolgt und in einem Arbeitshaus festgesetzt zu werden.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde mit der "Verordnung, betreffend die vorübergehende Einführung der Paßpflicht" vom 31. Juli 1914 der Pass an den deutschen Grenzen wieder obligatorisch.

Doch lassen Nachkriegsvorschriften erkennen, dass der Goldstandard staatlicher Zurückhaltung bei den Identitätskontrollen nachwirkte: Mit Verordnung vom 10. Juni 1919 (RGBl., I S. 516) wurde zwar Ausländern auferlegt, sich in Deutschland mit einem Pass auszuweisen, die Befreiung von der Pass- bzw. Visumspflicht jedoch gleich mitbedacht.

Aufgrund der großen Zahl von Menschen, die u. a. durch die kommunistische Machtübernahme in Russland, die Grenzverschiebungen und Bürgerkriege Mittel- und Osteuropas entwurzelt wurden, erhielten nichtdeutsche Personen, die keine Aussicht auf einen Pass ihres neuen Heimatlandes hatten, ab 1924 "Personalausweise" als Passersatz. Diese Ausweise dienten den Entwurzelten dazu, in aufnahmewillige Länder oder den neuen Staat der Heimat zu migrieren und in Deutschland als Legitimationspapier.

1938: Passrechtlicher Paradigmenwechsel wird finalisiert

Die Verordnung vom 22. Juli 1938 und die tags darauf von Reichsinnenminister Wilhelm Frick erlassenen Bekanntmachungen setzten dem Prinzip ein Ende, dass jedenfalls Inländer keine amtlichen Papiere benötigten.

Indem er Deutschen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden zu gelten hatten, ab dem 15. Lebensjahr eine Ausweispflicht auferlegte, stellte Frick sie zudem Ausländern gleich. Das bereitete nicht nur ihre völlige Entrechtung vor – die Verschleppung in die Mordstätten des Ostens wurde rechtstechnisch als "Ausreise" konzipiert –, es beendete eben auch das knapp 50 Jahre gültige Prinzip, dass Aus- wie Inländer reisen können sollten, ohne Identitätsprüfungen über sich ergehen zu lassen.

Im Angesicht des unüberbietbaren Terrors der Shoah verblasst dieser Befund natürlich: Dass der von Immanuel Kant aufgestellte Satz, dass niemand "an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht als der andere" habe, woraus jedenfalls ein allgemeines Besuchsrecht resultiere, seither als kosmopolitische Spinnerei gilt.

Gilt sonst das klassische liberale Prinzip, der Staat bleibe bei Einschränkungen der Freiheit begründungspflichtig, wird die Behinderung durch Staatsgrenzen als die Regel genommen, von der Ausnahmen zu machen inzwischen als Bedrohung gilt.

Für ein Denken in Alternativen, dass man etwa einer afrikanischen Künstlerin eine unbürokratische, gar passfreie Einreise oder sogar Arbeitsaufnahme gegen hinreichende Versicherungspolicen und die eidesstattliche Erklärung erlauben sollte, nicht auf der Flucht in unseren national gedachten Sozialstaat zu sein, ist in der Post-Frick-Epoche kaum mehr Raum.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, 80 Jahre Ausweispflicht: . In: Legal Tribune Online, 22.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29891 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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