Künstliche Intelligenz statt Anwälten?: Juristenverarmung mit der Brockovich-App

von Martin Rath

11.01.2015

2/2: Systeme der erweiterten Realität

Bis sich eine Kanzlei ein derzeit mit rund einer halben Million US-Dollar Anschaffungskosten veranschlagtes KI-System anschaffen wird, das Akten und andere Vorgänge so gut aufbereiten und recherchieren soll, wie es derzeit die Rechtsanwaltsfachangestellten oder die aufgeweckteren Jurastudenten unter den Praktikanten tun, wird darum wohl noch viel Spreewasser durch mitteldeutsche Gurkenanbaugebiete fließen. Eine kleine technische und soziale Spekulation mag aber vielleicht dazu dienen, das Jahr 2030 als Zielmarke für grundlegende Veränderungen in den juristischen Dienstleistungen im Auge zu behalten.

Vorausgesetzt sei: Angetrieben durch die Spiele- und die Werbewirtschaft machen sich in den nächsten Jahrzehnten technische Systeme im Alltag breit, wie es das Mobiltelefon in den vergangenen vielleicht 15 Jahren tat. Sie bündeln technisch-soziale Funktionen, die buchstäblich ins Auge gehen: Man denke sich eine KI-Brille, die Bilderfassungs- und Bildausgabefunktionen enthält und in Echtzeit mit digitalen Netzwerken verbunden ist.

Derzeit gelten solchen Systemen, wie sie namentlich von der Firma Google in Alltagstestläufe gebracht wurden, vor allem Datenschutzbedenken. Spätestens wenn jeder Rollator mit GPS ausgestattet ist, weil man anders mit der Zahl an frühdementen Menschen nicht mehr zurande kommt, wird man derlei Bedenken wohl in den Wind schreiben. Den Nutzen, den Systeme der "erweiterten Realität", wie sie KI-Brillen eröffnen, für kranke wie gesunde Menschen bringen können, wird man vermutlich weniger hysterisch diskutieren als seinerzeit die Einführung von "Street Maps" in Deutschland.

Die Brockovich-App und was von den Staatsexamen bleibt

Eine KI-Brille in der Anwaltskanzlei oder Lawfirm könnte die soziale Hierarchie und damit die Arbeitsverhältnisse in zwei Richtungen umwälzen. In den Prognosen wird derzeit vor allem dem hochkarätigen Lawfirm-Anwalt eine immer noch rosige Zukunft vorhergesagt, weil die KI-Systeme seine Kernkompetenz im direkten Kundengeschäft nicht ersetzen könnten. Was aber, wenn eine KI-Brille so profane Dinge tut, wie die Blickrichtung ihres Trägers aufzuzeichnen?

Stellen wir uns eine Angestellte ohne Examina vor, die durch diesen Mechanismus exakt dazu angehalten wird, absolut jedes Blatt einer Akte (Papierakten werden 2030 vielleicht noch vom berittenen Justizwachtmeister aus den spreewäldischen Amtsgerichten gebracht), auf jedem Blatt wiederum jede Information zu lesen – wobei in Echtzeit die jeweils fallrelevanten Hintergrundinformationen und Norm-Kommentare aus dem Netz geliefert, ins Brillen-Display eingeblendet werden: In wie vielen Aspekten unterschiede sich die mögliche Leistung einer rechtswissenschaftlich nur halbgebildeten Person mit der Erin-Brockovich-App in der KI-Brille noch vom doppelt staatsexaminierten Rechtsdienstleister?

Die Frage soll die intellektuelle und biografische Leistung, die mit der "Befähigung zum Richteramt" verbunden ist, nicht in Abrede stellen. Aber mit dem Gedanken, dass technische Neuerungen binnen recht überschaubarer Zeit starke Veränderungen in der Arbeitswelt der juristischen Berufe nach sich ziehen werden, muss man sich wohl anfreunden.

Fraglich ist, welche Technik es sein wird. An welcher Stelle in der sozialen Hackordnung der Einkommensklassen es zum größten Federlesen kommen wird, Prognosen wie jene von Frey und Osborne gehen meist von Verlusten in den geringer qualifizierten Bereichen aus, darf man daher mit Skepsis betrachten – das wird vermutlich stark davon abhängen, welche technischen Tools die Veränderung bewirken mögen. In den Prognosen werden überwiegend Top-down-Techniken berücksichtigt, zuletzt etwa die künstliche Kanzlei-Intelligenz, die Junganwälte und Fachangestellte verarmen lässt. Denkbar, wie angedeutet, ist aber wohl auch eine Bottom-up-Technik, mit der sich das bisherige Fußvolk zusätzliche Fachintelligenz aneignet und die juristischen Silberrücken Mores lehrt.

Zum Trost: Frys "Futurama"

Trost angesichts der beunruhigenden Perspektiven von Frey & Osborne spendet die Welt des Lieferjungen Stephen J. Fry. Auch in der burlesken Zukunftswelt von "Futurama" tritt eine Anzahl von Juristen aus der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit auf. Beispielsweise ist Antonin Scalia, der heute 78-jährige beisitzende Richter am U.S. Supreme Court, immer noch als "Justice of The Supreme Court of Earth" tätig.

Lassen wir die etwas unfeine Funktion von Technik in dieser Phantasiejustiz der Zukunft beiseite, in "Futurama" treten die mehr oder weniger ehrenwerten Richterinnen und Richter als Köpfe im Marmeladenglas auf. Tröstlich ist, so unappetitlich das Zeichentrickbild ist, die Auswahl der "Futurama"-Schöpfer: Antonin Scalia gilt, trotz seiner bald 79 Lebensjahre, als einer der fleißigsten Richter des obersten US-Gerichts. Daraus folgt: Unabhängig davon, worauf sich Menschen durch technische Innovationen noch werden reduzieren lassen müssen: Es überleben, wie es scheint, doch stets jene, die die Arbeit machen, statt bloß darüber zu reden.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Künstliche Intelligenz statt Anwälten?: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14326 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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