Sitzungen sind für jede Bürokratie wichtig, die Justiz hat sie nur besonders stark kultiviert. Von mehrdeutigem Charakter ist, was beim vielen Sitzen im Studium und im späteren Alltag gebildet wird: das Sitzfleisch.
Seine Freizeit verbrachte der amerikanische Jurist William O. Douglas (1895–1980) gerne mit fröhlichem Alkoholkonsum und außerehelichen Affären: Stewardessen, Studentinnen und weibliche Zufallsbekanntschaften. Er war eine Figur wie aus der Fernseh-Serie "Mad Men" oder einem unkeuschen Kennedy-Film – was ihn aber nicht daran hinderte, zum Richter am U.S. Supreme Court mit der längsten Dienstzeit zu avancieren.
Der ehrgeizige Douglas war im April 1939 von Franklin D. Roosevelt (1882–1945) nominiert worden. Als er sich 1975 – nach unorthodoxen Voten etwa zur Hinrichtung der Eheleute Rosenberg (1953) oder zur Unrechtmäßigkeit des Vietnamkriegs (1973) – zur Ruhe setzte, hatte er es auf beachtliche 36 Dienstjahre gebracht.
Es ist gleichwohl fraglich, ob damit auch besonderes Beharrungsvermögen einherging. Als gespannt gilt etwa seine Beziehung zu Felix Frankfurter (1882–1965), der in den Jahren 1939 bis 1962 zu Douglas' Kollegen am Obersten Gerichtshof zählte. Die privaten Eskapaden von Douglas spielten dabei möglicherweise eine geringere Rolle. Allerdings neigte der lebenslustige Richter dazu, seine meist sozialliberalen Vorstellungen nicht allzu tief in der juristischen Argumentationstradition abzusichern. Felix Frankfurter stand hingegen für methodische Strenge in der Argumentation und politisches "self restraint" des Gerichts.
Seine Voten fasste Richter Douglas nicht selten auf dem Papier von Luftfahrt-Gesellschaften oder Hotels ab, böse Zungen sprachen davon, dass auch Cocktail-Servierten dazu herhalten mussten. In den progressiven Zeitgeist passten sie jedoch. Insbesondere forcierte er das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht auf Privatsphäre, beispielsweise gegen ein staatliches Verbot, sich Verhütungsmittel zu beschaffen – ein Urteil aus dem Vorfeld von "Roe v. Wade".
Woran es dem quirligen Kollegen William O. Douglas in den Augen von Felix Frankfurter dabei aber schlicht fehlte, lässt sich in einem Wort zusammenfassen: "sitzfleisch".
Zwischen Bewunderung und Abneigung: "sitzfleisch"
Die Biografie von Felix Frankfurter, der als Mitgründer der American Civil Liberties Union (ACLU) alles andere als ein schlechthin konservativer Kopf war, gibt einen ersten Hinweis auf die Herkunft des amerikanisierten deutschen Worts "sitzfleisch".
Frankfurter, Sohn einer jüdischen Familie, geboren in Wien, war im Alter von zwölf Jahren in die USA eingewandert. Doch stand er mit seiner Wertschätzung für das "sitzfleisch" unter amerikanischen Juristen und Intellektuellen nicht allein.
Denn neben den beiden bis heute prominenten Ausdrucksformen akademischer Gelehrsamkeit in Deutschland – der Fußnote und der Festschrift – galt auch das Sitzfleisch als Voraussetzung wie Konsequenz intellektueller Leistungen deutscher Provenienz, die man in den USA noch oft bewunderte, gelegentlich aber auch für skurril und weltfremd hielt.
Zudem hat sich das Wort "sitzfleisch" wohl auch zu den zahlreichen Lehnwörtern hinzugesellt, die das amerikanische Englisch aus dem Jiddischen übernommen hat. Hier bezeichnet es beispielsweise sowohl die körperlichen Leistungen als auch die Leiden, die mit einem intensiven Talmud-Studium verbunden sind.
In beiden Variationen qualifiziert es sich natürlich dazu, von Party-Mäusen und Sportskanonen jederlei Geschlechts mit einer Mischung aus heimlicher Wertschätzung und offener Verachtung bedacht zu werden – das hat das ältere "sitzfleisch" mit den jüngeren "nerds" gemeinsam.
Eine vermittelnde Position zwischen Sportskanonentum und Nerdgesäß findet sich im amerikanischen juristischen Schrifttum jedoch auch schon früh. Im "Journal of Legal Education" (1960, 553–556) erklärte der emeritierte Juraprofessor John Hanna (1891–1964), dass das lange Sitzen bei den seinerzeit noch neumodischen Flugreisen sowie bei endlosen akademischen Gremiensitzungen als Beweis für körperliche Leidens- und Leistungsfähigkeit vielleicht mehr tauge als etwa demonstratives Golfspielen – der pensionierte US-Präsident und frühere Feldherr Dwight D. Eisenhower hatte mit seiner Schlagzahl gerade erst seine leibliche Fitness öffentlich in Szene gesetzt.
Luhmann versus Habermas – eine Sitzfleischfrage
Auch in seinem – jedenfalls linguistischen – Mutterland hat man sich mit der Qualität von Sitzfleisch beschäftigt, wobei das Gewicht in Deutschland weniger auf die Nebenwirkungen staunenswerter akademischer oder talmudischer Gelehrsamkeit gelegt wird als auf die soziale Macht von Beharrungsvermögen.
Unter dem Titel "System, Diskurs und die Diktatur des Sitzfleisches" ließ beispielsweise schon 1972 der jüngst verstorbene Sprach- und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich (1927–2022) die beiden großen Theorie-Konstrukteure gegeneinander antreten, um die sich in der akademischen Welt Deutschlands, nicht zuletzt in der rechtswissenschaftlichen Theoriediskussion auf lange Jahre sehr viel drehen sollte: den Juristen und Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) einerseits, den Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas (1929–) andererseits. Wie bei Weinrich außerdem noch der bis heute einflussreiche Pädagogikprofessor Hartmut von Hentig (1925–) ins Glied zurücktreten muss, ist ein intellektuelles Vergnügen, zumindest für Nerds.
Auch für Nicht-Nerds, die heute unter langen Sitzungen leiden, diese jedenfalls nicht auch noch theoretisch überhöht finden wollen, lässt sich ein Argument aus der "Diktatur des Sitzfleischs" herausgreifen.
Damals – 1972 – pfiffen alle Theorie-Spatzen das hohe Lied vom herrschaftsfreien Diskurs von den Dächern. Luhmann hingegen wollte allenthalben nur Komplexitätsreduktion durch Systeme entdecken.
Gegen Habermasʼ Ideal vom herrschaftsfreien Diskurs führte Weinrich an, dass nicht "alle Diskurs-Teilnehmer chancengleiches Sitzfleisch haben". Wenn man der Vorstellung folgen wolle, "reale Gesprächssituationen vor Gericht, im Hörsaal oder im Parlament sollten möglichst weitgehend dem idealen Diskurs entsprechen, ergeben sich entscheidende Strategievorteile für alle diejenigen Personen oder Gruppen, die aufgrund irgendwelcher Umstände (Besitz, Jugend, Phlegma, robuste Gesundheit, fehlende familiäre Bindungen usw.) die möglicherweise gefährlich lange Dauer des Diskurses nicht zu scheuen brauchen".
Weinrich dachte 1972 daran, dass Menschen mit dem Privileg guten Sitzfleisches eine Kontroverse deshalb gewinnen könnten, weil es ihnen möglich sei, die Komplexität der Argumente beliebig zu erhöhen, sodass es am Ende auf ihren langen Atem ankomme, einen Streit für sich zu entscheiden.
Fraglich ist, ob der heute populäre, aber eher komplexitätsarme Sekundenkleber dieses ältere Diskurs-Sitzfleisch im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit substituieren soll. Denkbar wäre auch, dass mitunter verhärmte Vegetarierinnen und Veganer einfach nur zu wenig Eigengewicht für die klassische Sitzblockade mitbringen.
Besondere Affinität der Juristinnen und Juristen zum Sitzen
Neben der straf- und verfassungsrechtlichen Würdigung des schlichtesten Sitzfleisch-Arguments – der Sitzblockade als "eine Art Juwel der bundesdeutschen Protestgeschichte" – und individuellen orthopädischen Problemen wegen langen Brütens über den Akten haben Juristinnen und Juristen noch eine weitere, sehr spezifische Affinität zu Fragen des Sitzens.
In ihrem Artikel "Jenseits des Spektakels. Über das Versprechen der Rechtsprechung und andere Sachen" führt die in Dresden lehrende Rechts- und Politikwissenschaftlerin Sabine Müller-Mall (1978–) in dieses besondere Verhältnis der juristischen Zunft zum Sitzungsbetrieb ein ("Zeitschrift für Ideengeschichte" 3/2022, S. 11–17).
Dass sich das Sitzen tief in die juristische Sprache eingegraben hat, vom Richterstuhl über das Stuhlurteil hin zu den Vor- und Beisitzern, mag dabei auf den ersten Blick eine noch ebenso profane Erkenntnis sein wie Müller-Malls Hinweis darauf, dass historisch das Stehen und das Sitzen vor Gericht die Hierarchie ausdrückte (wer vor Gericht gestellt wird, hat eindeutig keine angenehme Position), oder auf die rituellen Funktionen von Aufstehen, Sitzen, Aufstehen zur Eingrenzung dessen, was als Sitzung eines Gerichts erkannt werden will.
Mit ihrer Erkenntnis, dass das große Theater der öffentlichen Verhandlung – mit ihrem leibhaftigen Aufstehen, Sitzen, Aufstehen – nur einen Bruchteil der Tätigkeiten der Justiz ausmacht, sie darauf aber unter der Voraussetzung durchaus verzichten könne, "dass es jederzeit möglich ist, das Recht in Form eines großen Prozesses aus- und aufs Spiel zu setzen, genau dann, wenn etwas offen ist: Rechtsfragen oder die Frage, was tatsächlich geschehen ist", zielt Müller-Mall jedoch auf die körperliche und für die demokratische Öffentlichkeit auch wesentliche Seite des Rechts. Schade, dass diese phänomenologische, soziologische Perspektive im Jurastudium kaum vorkommt.
Warnung vor übermäßiger Sitzfleischbildung
Als Plädoyer dafür, in geistiger Bewegung zu bleiben und nicht leibhaftig zur bloßen Funktion – zum Funktionär – eines bürokratischen Apparats heranzureifen, lässt sich ein kurzes Stück aus der "Wolokolamsker Chaussee IV – Kentauren" zitieren, einem Langgedicht des Dramatikers Heiner Müller (1929–1995). Einen allzu treuen DDR-Staatsdiener ereilt hier folgendes Schicksal, das nur dem ersten Anschein nach durch die Magie eines zu Recht schlecht gelaunten Engels bewirkt wird, tatsächlich aber durch die eigene Haltung:
"Ich war mit meinem Schreibtisch fest verwachsen / Und fest mit mir verwachsen war mein Schreibtisch / Ich zog und zerrte Kampf mit allen Vieren / Der Schreibtisch um den Bauch kein Rettungsring / So macht Bewußtsein Sitzfleisch aus uns allen".
Hinweis: Das aktuelle Heft der "Zeitschrift für Ideengeschichte" unter dem Titel "Die Sitzung" enthält Weiterführendes zu ihrer Soziologie und Geschichte, mit und ohne Schreibtisch.
Sitzen und Recht: . In: Legal Tribune Online, 02.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49780 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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