Netflix-Doku-Serie "Bad Vegan" und Referenzen zum Siriusfall: Schützt das Straf­recht auch die "exquisit Dummen"?

Gastbeitrag von Katharina Reisch

09.04.2022

Bei "Bad Vegan" verspricht ein Mann Unsterblichkeit gegen Millionenzahlungen. Auch absurde Täuschungen können strafrechtlich Betrug sein. Ob das auch gilt, wenn mit Google die Wahrheit recherchiert werden kann, bespricht Katharina Reisch.

Netflix hat dem Betrugstatbestand in den letzten Wochen eine regelrecht voyeuristische Popularität verschafft. Erst der "Tinder-Schwindler" und "Inventing Anna" nun die Serie "Bad Vegan: Berühmt und betrogen", in der ebenfalls eine wahre Begebenheit verfilmt wird. Sarma Melngailis, die Inhaberin eines veganen Rohkost-Restaurants in New York verliebt sich im Internet in einen Mann. Shane, der eigentlich Anthony Strangis heißt, unterbreitet Sarma ein erstaunliches Angebot: Er verspricht ihr im Gegenzug für die Zahlung hoher Geldbeträge den Aufstieg in einen übermenschlichen Daseinszustand, in dem sie und ihr geliebter Pitbull das ewige Leben erwarte. Begeistert von diesen verlockenden Aussichten zahlt Sarma fast zwei Millionen Dollar an Shane – freilich ohne den versprochenen Zustand jemals zu erreichen.

Während die Dokumentation zahlreiche Zuschauer:innen an die "Bizarro-Ränder menschlicher Wunderlichkeit" führt, werden Freund:innen des Strafrechts wohl sofort den "Siriusfall" im Kopf haben, den der Bundesgerichtshof (BGH) 1983 entschieden hat (Urt. v. 05.07.1983, Az. 1 StR 168/83). Auch dort ging es um Übermenschliches. Ein Mann hatte einer Frau die mystische Transformation in einen neuen Körper auf einem anderen Planeten versprochen, auch hier gegen Zahlung hoher Geldsummen. Knapp 40 Jahre später besteht mit Blick auf "Bad Vegan" erneut Anlass zu fragen: Wie weit reicht der Schutz des Betrugstatbestandes? Schützt § 263 StGB auch die "exquisit Dummen" (Samson, JA 1978, 472 f.) oder schließt ein Mitverschulden des leichtgläubigen Opfers den Tatbestand aus? Und welche Besonderheiten ergeben sich im Zeitalter des Internets, wo bizarre Lügen durch kurzes Googeln doch rasch auffliegen müssten?

Hat sich Shane wegen Betrugs strafbar gemacht?

Betrachtet man "Bad Vegan" aus dem Blickwinkel des deutschen Strafrechts, kommt neben den diversen "Beschaffungsstraftaten" (u.a. §§ 266, 266a StGB) der verzweifelt um Geld bemühten Sarma vor allem eine Betrugsstrafbarkeit des Doku-Protagonisten Shane in Betracht. Der Betrugstatbestand verlangt objektiv die Täuschung über Tatsachen, die kausal zu einem Irrtum des Betrugsopfers und sodann zu einer Vermögensverfügung und einem Vermögensschaden führt. In seinem Versprechen, Sarma und ihren Hund in den Zustand der Unsterblichkeit versetzen zu können, liegt zunächst eine ausdrückliche Täuschung über Tatsachen. Diese ruft bei Sarma einen Irrtum hervor, da sie Shanes Worten Glauben schenkt. Infolge dieses Irrtums zahlt sie hohe Geldbeträge an Shane und verfügt damit über ihr Vermögen. Da sie für diese Zahlungen niemals die versprochene Gegenleistung erhalten kann, besteht mangels möglicher Kompensation auch ein Vermögensschaden. Shanes abenteuerliche Erzählungen und Zahlungsaufforderungen zielen zudem subjektiv nur auf seine persönliche, rechtswidrige Bereicherung. Er erfüllt also unproblematisch den Tatbestand des Betruges nach § 263 Abs. 1 StGB – oder?

Kann man jemanden wirklich wegen Betruges bestrafen, wenn das Opfer seinen gesunden Menschenverstand offenbar völlig ausgeschaltet hat und selbst abstruse Täuschungen nicht erkennt? Unter dem Stichwort der "Viktimodogmatik" (lat. victima = das Opfer) wird diskutiert, das besonders leichtgläubige Opfer aus dem Anwendungsbereich von § 263 StGB auszuschließen. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass das Strafrecht als schärfstes Schwert des Staates aufgrund des Ultima-Ratio-Prinzips nur dann angewendet werden darf, wenn Rechtsgüter nicht anderweitig geschützt werden können.

Viktimodogmatische Einschränkung des Betrugstatbestands?

Es existieren verschiedene viktimodogmatische Ansätze, die den Betrugstatbestand unter Verweis auf die Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers  in diesen Fällen einschränken:

Einige Rechtswissenschaftler:innen legen das Tatbestandsmerkmal der Täuschung restriktiv. Nur besonders schwer durchschaubare und ausgeklügelte Täuschungen werden als Tathandlung akzeptiert, oder es wird verlangt, dass der Täuschung ein besonderer Grad an konkreter Gefährlichkeit innewohnt. Im Ergebnis liegt nach diesen Ansätzen eine Täuschung nur dann vor, wenn auch bei einem "Durchschnitts-Opfer" ein Irrtum hervorgerufen worden wäre. Wenn jemand hingegen grob fahrlässig eine völlig offensichtliche Lüge nicht erkennt – wie Sarma in "Bad Vegan" das Versprechen der Unsterblichkeit – soll eine strafrechtlich relevante Täuschung nicht gegeben sein.

Eine andere Einschränkungsmöglichkeit ergibt sich durch Berücksichtigung des Opfermitverschuldens auf der Irrtumsebene. Danach gilt die vom Opfer entwickelte Fehlvorstellung nur dann als Irrtum, wenn es die Täuschung nicht hätte erkennen können. Als opferbezogenes Merkmal erweist sich der Irrtum systematisch als geeigneterer Standort für viktimodogmatische Überlegungen als das Täuschungsmerkmal.

BGH im "Siriusfall": Auch die Dummen müssen geschützt werden

Die herrschende Literatur und die Rechtsprechung lehnen jedwede viktimodogmatische Einschränkungen des Betrugstatbestandes jedoch ab. Im "Siriusfall" bejaht der BGH 1983 ausdrücklich den strafrechtlichen Schutz durch § 263 StGB unabhängig von einer etwaigen Durchschaubarkeit der Lüge durch einen verständigen Menschen. Dieses Ergebnis wird maßgeblich von kriminalpolitischen Erwägungen getragen: Zum einen obliege es auch und gerade dem Strafrecht, besonders unerfahrene, sorglos-vertrauensselige und intellektuell eingeschränkte Personen durch § 263 StGB zu schützen. Zum anderen sei für den Fall einer Straflosigkeit bei leicht durchschaubaren Täuschungen eine Spezialisierung des Betrugsphänomens auf besonders leichtgläubige Menschen zu erwarten. Um Betrugstäter:innen also keinen Persilschein zulasten vulnerabler Gruppen auszustellen, soll auf das Mittel des Strafrechts auch in diesen Fällen nicht verzichtet werden.

Doch gut 20 Jahre später diskutierte die Strafrechtswissenschaft unter Rekurs auf die europarechtliche Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (RL 2005/29/EG) erneut viktimodogmatische Einschränkungen des § 263 StGB. Dort ist das europäische Verbraucherleitbild festgehalten, nämlich der informierte, verständige, aufmerksame und verständige Durchschnittsverbraucher.

"Durchschnittsopfer" – Strafrechtlich ein zu unbestimmter Begriff

Dieser Verbrauchertyp müsse wegen des Grundsatzes der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) und der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung auch im Strafrecht zugrundegelegt werden. Demnach läge eine strafrechtliche relevante Täuschung nur bei Handlungen vor, die zur Überlistung eines solchen Durchschnittsverbrauchers geeignet sind. Der BGH tritt aber auch dieser Erwägungen entschieden entgegen. Aus einer opferschützenden Perspektive stellt er 2014 klar, dass eine Orientierung am europäischen Verbraucherleitbild für die Auslegung des Betrugstatbestandes nicht in Frage komme. Denn andernfalls konterkariere man den von § 263 StGB intendierten Schutz besonders vulnerabler Personen sowie Sinn und Zweck der Richtlinie (BGH, Urteil v. 05.30.2014, Az. StR 616/12).

Für die Ansicht des BGH spricht dogmatisch der strafrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Abs. 2 GG. Strafrechtliche Vorschriften müssen im Interesse der Rechtssicherheit so präzise sein, dass Strafe für Bürger:innen vorhersehbar ist. Die beschriebenen Einschränkungen der Merkmale "Täuschung" oder "Irrtum" wie auch die Frage nach einem "Durchschnittsverbraucher" öffnen einer willkürlichen Handhabe jedoch Tür und Tor. Wann ist eine Täuschung denn leicht, wann schwer durchschaubar? Auch was unter einem verständigen Durchschnittsverbraucher zu verstehen ist, mag in wettbewerbsrechtlichen Auseinandersetzungen durch ein Gericht festgelegt werden können, dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot vermag ein derartig diffuser Begriff aber nicht standzuhalten.

Später Durchbruch der Viktimodogmatik im digitalen Zeitalter?

Shanes in der Netflix-Doku-Serie "Bad Vegan" dargestelltes Verhalten würde von einem deutschen Strafgericht also sehr wahrscheinlich nach § 263 Abs. 1 StGB bestraft werden. Denn der Schutz des Betrugstatbestandes reicht weit. Er gilt auch und insbesondere dem außergewöhnlich leichtgläubigen Opfer. Es bleibt aber die Frage, ob diese über Jahrzehnte tradierte Rechtsauffassung im Zeitalter einer zunehmend digital vernetzten Gesellschaft noch zeitgemäß ist. Man könnte doch meinen, dass es noch nie so einfach war, Lügen durch Online-Recherche oder durch Ratschläge aus sozialen Medien auch als solche zu enttarnen. Eine kurze Google-Suche etwa liefert in weniger als einer Sekunde über 1,3 Millionen Ergebnisse dazu, dass Menschen nicht unsterblich werden können.

Während die Überprüfungsmöglichkeiten zur Zeit des "Siriusfalles" eingeschränkt waren, standen Sarma aus "Bad Vegan" die Recherche- und Kommunikations-Tools des Anthropozäns in ihrer schillernden Vielfalt zur Verfügung. Als digitalisierte junge Frau, die ihren Partner im Internet kennenlernte, wäre sie zur Überprüfung seiner abenteuerlichen Versprechen ohne weiteres in der Lage gewesen. Braucht es für solche Fälle einen minder schweren Fall des Betruges? Denn der Unrechtsgehalt absurder Täuschungen scheint in Zeiten des Internets erheblich gesunken. Was in den 80er-Jahren noch plausibel vorgeschwindelt werden konnte, kann heute in Sekundenschnelle entlarvt werden. Das kriminelle Unrecht solcher auf gut Glück eingesetzten Täuschungen erscheint dadurch geringer.

Oder sollte die Betrugsstrafbarkeit vielleicht sogar ganz ausscheiden, weil die Wahrheit mit einem Klick ergoogelt werden könnte? Der Einsatz des Strafrechts als Ultima Ratio könnte heutzutage schlicht unverhältnismäßig sein. Schließlich könnte sich jede:r ganz einfach selbst vor einer Rechtsgutsverletzung schützen. In der bewussten Entscheidung gegen diesen Selbstschutz durch oberflächlichste Google-Recherchen könnte sogar eine von Art. 1 und 2 GG geschützte freiverantwortliche Selbstschädigung liegen, die den Zurechnungszusammenhang zugunsten des Täuschenden unterbricht. Der Betrugstatbestand wäre dann mangels objektiver Zurechnung ausgeschlossen.

Ermöglicht das digitale Zeitalter nun also den späten Durchbruch der Viktimodogmatik? Wohl eher nicht. Zum einen ist bereits äußerst fraglich, ob der Unrechtsgehalt des Betruges tatsächlich geringer ist, wenn der Täter wie im Fall "Bad Vegan" durch systematische Manipulation eine emotionale Abhängigkeit des Opfers zum Zwecke wirtschaftlicher Bereicherung herstellt und missbraucht. Geht dies nicht sogar über das im Betrugstatbestand vertypte, lediglich vermögensbezogene Unrecht hinaus? Zum anderen sollte das Aufklärungspotential des Internets auch nicht überschätzt werden: Denn solange in der ungezähmten Wildnis virtueller Echokammern Fake News und Verschwörungsnarrative die Wirklichkeit unterminieren, bleiben auch im digitalen Zeitalter bisweilen mehr Lügen als Wahrheiten.

Die Autorin Dipl. Jur. Katharina Reisch ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-August-Universität Göttingen bei Prof. Dr. Katrin Höffler.

Zitiervorschlag

Netflix-Doku-Serie "Bad Vegan" und Referenzen zum Siriusfall: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48099 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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