Justizversagen vor 125 Jahren: Erstes Urteil gegen Haupt­mann Dreyfus

von Martin Rath

22.12.2019

Am 22. Dezember 1894 verurteilte das Kriegsgericht Paris den Berufsoffizier Alfred Dreyfus wegen Landesverrats zugunsten Deutschlands – die Sache sollte zum Skandalprozess des beginnenden 20. Jahrhunderts schlechthin heranwachsen.

Selten dürfte der Bruch mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlich korrekten Strafprozesses derart tiefgreifende Konsequenzen für eine moderne Gesellschaft nach sich gezogen haben, wie das Verfahren vor dem Obersten Kriegsgericht (Premier conseil de guerre) zu Paris.

Es begann am 19. Dezember 1894 und schloss nach nur drei Tagen Verhandlungsdauer mit dem Urteil gegen den Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) – Degradierung, Entfernung aus dem Dienst, lebenslange Verbannung nach Französisch-Guyana.

Die Dreyfus-Affäre ist heute vor allem als ein Ausgangspunkt des 'modernen' Antisemitismus geläufig. Doch war sie vor allem auch ein in einer extrem polarisierten Öffentlichkeit ausgetragener Justizskandal.

Im Jahr 1894 war die ideologisch und sozial zerrissene französische Republik, so der Historiker Vincent Duclert, gerade erst auf dem Weg, eine Atempause in ihren politischen Kontroversen einzulegen.

Frankreich – ein Land voll kleiner Bürgerkriegsfantasten

So hatte die enorm erfolgreiche national-populistische Bewegung des früheren Kriegsministers und Generals Georges Ernest Boulanger (1837–1891) ihr Ende in seiner Verurteilung wegen Korruption gefunden – abgeschlossen durch seinen melodramatischen Suizid im Brüsseler Exil, am Grab einer vormaligen Geliebten.

1892 war – mit einem antisemitischen "Spin" – publik geworden, in welch ungeheurem Ausmaß sich Parlamentarier durch Bestechung für das Projekt Ferdinand de Lesseps‘ (1805–1895) hatten gewinnen lassen, nach dem Suez- nun auch einen Kanal durch Panama zu graben – das unter Vernichtung zahlloser Menschenleben und, für den französischen Kleinanleger deutlich schlimmer, 1889 im Konkurs endete.

Am 25. Juni 1894 erdolchte der italienische Anarchist Sante Geronimo Caserio (1873–1894) den französischen Präsidenten Marie François Sadi Carnot, der sich u.a. durch einschneidende Gesetze gegen die gewerkschaftliche Propaganda unbeliebt gemacht hatte.

Zu den sozialen Verwerfungen der industriellen Revolution und Urbanisierung kamen alte identitätspolitische Konflikte hinzu: Mochten antiklerikal radikalisierte Liberale zum Beispiel im katholischen Volksschulwesen ein Fortschrittshindernis sehen, war unter reaktionären Katholiken unter anderem die Erinnerung daran wach geblieben, dass die erste französische Republik 100 Jahre zuvor in der Vendée nachgerade einen innerfranzösischen Völkermord an Klerus und gläubigem Landvolk verübt hatte.

Beschimpften liberale Franzosen ihre katholisch-konservativen Landsleute als Marionetten des Papstes, revanchierten sich diese mit der bereitwilligen Aufnahme eines neuen populären Antisemitismus aus der dampfbetriebenen Schnellpresse. Der Journalist Édouard Drumont (1844–1917) erzielte seit 1886 zum Beispiel mit seinem verschwörungstheoretischen Werk "La France Juive" (deutsch 1886/87 als "Das verjudete Frankreich") außerordentlich gute Verkaufserfolge – bis heute ein Modell für menschenfeindliche Bestseller.

Rechtsstaatswidriger Prozess gegen Hauptmann Dreyfus

Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren noch  viel breitere Bevölkerungskreise noch viel dümmer als heute, wenn es um die Erkenntnis volkswirtschaftlicher Zusammenhänge ging.  Verschwörungsdenken – manchmal mit sachlichem Kern – vermittelte eine entlastende Illusion, den Durchblick zu haben.

Am 25. September 1894 hatte Marie Bastian, eine Reinemachefrau in der deutschen Botschaft zu Paris, im Papierkorb des Militärattachés Maximilian von Schwartzkoppen (1850–1917) einen zerrissenen Zettel ("Bordeau") entdeckt, mit dem ein namentlich nicht genannter französischer Generalstabsoffizier eine Anzahl von teils hochsensiblen Unterlagen zu liefern anbot. Sie übergab die Fundsache ihrem anderen Arbeitgeber, dem französischen Militärgeheimdienst.

Obwohl einige Angaben des Bordeaus dagegen sprachen, machten die ermittelnden Offiziere den relativ jungen Hauptmann Alfred Dreyfus als Urheber aus, jüngster Sohn einer Familie aus dem Elsass, die sich nach der deutschen Annexion für die französische Staatsangehörigkeit entschieden hatte. Als technischer Offizier jüdischer Konfession aus vermögendem Elternhaus war er zumindest im Generalstab eine Ausnahmefigur unter den katholischen, meist aus dem Adel stammenden Berufsoffizieren.

Weil einige seiner späteren Verteidiger selbst Antisemiten waren, liegt es jedoch nahe, den Fall des Hauptmanns Dreyfus nicht zuletzt als ein Ermittlungs- und Justizversagen zu betrachten: Dreyfus wurden etwa einige Aussagen des Zettels aus der Botschaft zur Niederschrift diktiert, um einen Schriftvergleich durchzuführen. Dass er wegen Kälte zittert, wird als Beleg seiner Schuld gesehen.
Im Oktober 1894 unterzeichnet Kriegsminister  Auguste Mercier (1833–1921), ein Berufsoffizier, den Haftbefehl, nachdem seine zivilen Kabinettskollegen zugestimmt haben – trotz Bedenken wegen der dürftigen Beweislage.

Am 15. Oktober inhaftiert, wird Dreyfus über einen längeren Zeitraum mit einer Schusswaffe allein gelassen, in der Erwartung, er möge sich als überführter Verräter selbst töten. Erst knapp zwei Wochen nach der Inhaftierung erlaubt man Lucie Dreyfus (1869–1945), ihren Schwager Mathieu Dreyfus (1857–1930) um Hilfe zu bitten, der für die Verteidigung seines Bruders in den nächsten Jahren einen Gutteil des Familienvermögens opfern wird.

Seit dem 1. November wächst sich das Ermittlungsverfahren zur Medien-Affäre aus. Durch die vorangegangenen Skandale – etwa die politische Korruption im Panama-Projekt – ist das Publikum misstrauisch und sensationshungrig. Der erwähnte Journalist und Bestseller-Autor Drumont bringt die Verschwörungstheorie auf, Dreyfus sei ein von Geburt zur Spionage bestimmter deutscher Agent.

Diese Idee trifft mit dem Bemühen der hausintern arbeitenden militärischen Ankläger zusammen, die sogenannte Ehre der französischen Streitkräfte nicht durch alternative Ermittlungsansätze zu beschädigen – in Betracht kam ja naturgemäß nur ein anderer, hoher Offizier.

Offizier Walsin-Esterházy, der wahre Täter

Einigen der militärischen Beteiligten wird zwar relativ früh klar, dass der im Geheimdienst tätige Offizier Ferdinand Walsin-Esterházy (1847–1921) der wahre Täter ist, dieser Ansatz kann jedoch von Dreyfus‘ Verteidigern erst sehr viel später und nur mit einem ungeheuren juristischen und publizistischen Aufwand zur Kenntnis mancher Richter gebracht werden.

Dem obersten Kriegsgericht in Paris werden zwischen dem 19. und 22. Dezember 1894 zunächst nur die mageren Beweismittel präsentiert. Nachdem die Richter – Berufsoffiziere – sich noch nicht überzeugt zeigen, wird ihnen von Seiten des Kriegsministeriums eine Auswahl an Aktenstücken vorgelegt und die Überzeugung des Ministers versichert, Dreyfus sei der Landesverräter – wovon weder Anklage noch Verteidiger Kenntnis erhalten. Die Öffentlichkeit ist bereits seit dem ersten Verhandlungstag ausgeschlossen.

Zu wissen, dass der Kriegsminister – nicht nur ihr Vorgesetzter, sondern als Berufsoffizier zudem auf die gleiche sogenannte Ehre verpflichtet – von der Schuld überzeugt ist und diese heimliche Aktenauswahl ein erschöpfendes Bild vom Sachverhalt zeichne, genügte nun, Dreyfus zu verurteilen.

Am 5. Januar 1895 wurde Dreyfus auf dem Hof der École militaire öffentlich degradiert. Nachdem ihm die Rangabzeichen abgerissen und der Offizierssäbel zerbrochen wurden, hatte er vor mehreren hundert Offizieren aller Waffengattungen vorbei zu defilieren.

Als Ort der Verbannung – die Todesstrafe für politische Delikte war im liberalen Revolutionsjahr 1848 abgeschafft worden – wurde durch Kabinettsbeschluss Französisch-Guyana bestimmt, wo Dreyfus bis 1899 auf der Teufelsinsel unter scharfer Isolationshaft stand. Als er viereinhalb Jahre später zu einem neuen Kriegsgerichtsverfahren nach Frankreich zurückgeholt wird, ist er zum Skelett abgemagert und hat viele Zähne verloren – das Sprechen fällt ihm auch schwer, weil seine Wächter mit ihm kein Wort wechselten.

Die Mutter aller PR-Litigation-Schlachten beginnt

Was bis zum 22. Dezember 1894 nur ein schäbiger Justizmord mit militärischen Richter-Darstellern war, bereit, für den guten Ruf der Streitkräfte einen mit unfairen Mitteln vermeintlich Überführten zu opfern, wuchs sich erst einige Zeit nach diesem Urteil zur Dreyfus-Affäre aus.

Dem seit dem 1. Juli 1895 zuständigen Abwehr-Offizier Marie-Georges Picquart (1854–1914) trug Marie Bastian – besagte Reinemachefrau aus der deutschen Botschaft – neue Hinweise auf den Verräter Esterházy zu, denen Picquart aus Sicherheitsgründen zwar nachgehen musste, während er auf Wunsch seiner Vorgesetzten aber den Fall Dreyfus ausklammern sollte – die sich allen Versuchen Picquarts verweigerten, dessen Unschuld zu beweisen.

Die Geschichte, diese Beweise gleichwohl zu richterlichem Gehör zu bringen, füllt Bände: Um keine weitere Schmach aufs Militär kommen zu lassen, wurden Dokumente unterdrückt, produziert oder gefälscht, ein existenzvernichtendes Verfahren wird gegen Picquart geführt, Esterházy in einem von ihm selbst angestrengten Militärgerichtsprozess freigesprochen. In der ersten Wiederaufnahme 1899 erleidet Dreyfus ein zweites Urteil. Auch das füllt Bände.

Am 13. Januar 1898 veröffentlichte Émile Zola (1840–1902) seinen berühmten Artikel "J'accuse"  – nur die Spitze einer Kampagne der "Dreyfusards" mit dem Ziel, wegen Verleumdung verklagt zu werden und die gegen Dreyfus fabrizierten Beweise vor ordentlichen Richtern entkräften zu können. Zola wurde verurteilt. Das füllt wiederum Bände.

Kurz: Erst am 12. Juli 1906 hebt die  Cour de Cassation das zweite Militärgerichtsurteil gegen Dreyfus auf, am nächsten Tag werden Dreyfus und Picquart auf Beschluss des Parlaments mit zeremoniellem Pomp wieder ins Militär aufgenommen.

Ein faires Verfahren gleich am Beginn hätte es der französischen Gesellschaft erspart, sich derart dem skandaljournalistischen Wahnsinn hinzugeben.

Literatur: Vincent Duclert: Die Dreyfus-Affäre, Berlin 1994. Siegfried Thalheimer: Die Affäre Dreyfus, München 1963, 1986. Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Bd. VII, S. 44–84.

Zitiervorschlag

Justizversagen vor 125 Jahren: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39365 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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