Interview mit Thomas Fischer

"Wenn Protest gegen Unsinn mich zum Rebell macht, bin ich gern einer"

von Constantin Baron van LijndenLesedauer: 13 Minuten
Kein anderer Spruchkörper des BGH schreibt so viele Schlagzeilen wie der 2. Strafsenat. Im Interview spricht dessen Vorsitzender Thomas Fischer u.a. über seinen Führungsstil, Zwist mit Kollegen und was ihn an der Bezeichnung "Rebellensenat" stört.

LTO: Herr Fischer, Ihr Senat ist dafür bekannt, auffallend häufig mit bestehender Rechtsprechung des BGH zu brechen, mitunter hat ihm das die Bezeichnung als "Rebellensenat" eingebracht. Wie kommt das? Ist es bloßer Zufall, dass sich im 2. Strafsenat überdurchschnittlich reformfreudige Richter zusammengefunden haben, oder haben Sie den Senat als sein Vorsitzender gezielt auf Kurs gebracht? Fischer: Die Voraussetzungen Ihrer Frage scheinen mir nicht unstreitig. Wir – d. h. der 2. Strafsenat – brechen nach meiner Ansicht nicht "auffallend häufig" mit bestehender Rechtsprechung, sondern nur in einem sehr kleinen Prozentsatz von vielen hundert Verfahren, die wir jährlich entscheiden. Die Wahrnehmung ist möglicherweise verzerrt, weil über abweichende Entscheidungen sehr viel intensiver berichtet wird als über solche, die den status quo bestätigen und anwenden. Wenn der 2. Senat dennoch geringfügig häufiger als andere Senate einen Kurswechsel einleitet, dann liegt das an seiner – in der Tat: zufälligen – Zusammensetzung. Es ist nicht so, dass der 2. Senat "liberaler" wäre als die übrigen, aber unter seinen Mitgliedern besteht wohl die größte rechtspolitische Spreizung und die größte Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, wenn diese vorzugswürdig erscheinen. Diese Zusammensetzung führt nicht dazu, dass wir automatisch (oder gar: aus Prinzip oder "Rebellentum") mit bestehenden Regeln brechen würden, aber sie schafft günstige Voraussetzungen dafür. Ich selbst habe damit nur insofern etwas zu tun, als ich eines der sieben Mitglieder des Senats bin. Meine Stimme wiegt dort nicht mehr als jede andere – zu Unrecht wird oft das Wort "Vorsitzender" mit "Vorgesetzter" verwechselt.

Die Bezeichnung "Rebellensenat" ist im Übrigen eine Zuschreibung der Presse und stammt aus einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich dem gerichtsverfassungsrechtlichen Konflikt der Jahre 2011 und 2012 um die Ernennung von Vorsitzenden Richtern am BGH zu Vorsitzenden von zwei Strafsenaten mit jeweils 100 Prozent ihrer Arbeitskraft. Eine Spruchgruppe des Senats – unter anderem auch ich selbst – hielt dies für verfassungswidrig, weil ein Senatsvorsitzender, der auf Dauer 200 Prozent der Arbeitsleistung eines durchschnittlichen Senatsvorsitzenden erbringen muss, nicht der "gesetzliche Richter" sein könne, den das Grundgesetz garantiert. Denn eine solche Leistung ist unmöglich.

"Die BVerfG-Entscheidung zum Doppelvorsitz verwechselt Müssen mit Können"

LTO: Eine Ansicht, die das Bundesverfassungsgericht nicht teilt. Fischer: Ja – man hat uns dort eines Besseren belehrt und entschieden, dass ein Senatsvorsitzender keine Akten lesen muss und beliebig hoch belastet werden kann, wenn es dem Präsidium des BGH gefällt. Denn "Jeder Richter eines Senats muss" – so das BVerfG – "dieselbe umfassende Kenntnis vom Verfahrensstoff haben." Das entscheidende Wort ist hier: muss. Wenn der Vorsitzende so viele Akten zu verwalten hat, dass kein Mensch auf der Welt das mehr schaffen kann, ist das ebenso gleichgültig wie wenn drei von fünf Richtern eines Senats die Akten erst gar nicht lesen, sondern sich ihren Inhalt nur erzählen lassen: Da sie alle dieselbe Kenntnis haben "müssen", so meint die erste Kammer des 2. Senats unseres Verfassungsgerichts, werden sie sie dann wohl auch haben. Wenn Widerspruch gegen einen solch offenkundigen Unsinn schon als "Rebellentum" gilt, bin ich gerne "Rebell".

"Manche Kollegen grüßen uns nicht einmal mehr"

Viele, auch Kollegen am BGH, verstehen überhaupt, nicht, um was es da geht. Die Zivilsenate des Gerichts kämen nie auf die Idee, ihre Fälle ohne Lektüre der Revisionsakten durch alle und ohne schriftliches Votum des Berichterstatters zu entscheiden. Trotzdem laufen sie mit finsteren Blicken umher und halten die angeblichen "Rebellen" des 2. Strafsenats noch nicht einmal mehr eines Grußes für würdig, weil diese das "Nest beschmutzen". Das ist absurd, muss aber leider ertragen werden. Das einzige inhaltliche Argument, das ich bisher gehört habe, war, dass man die Menge der Arbeit nicht schaffen würde, wenn die entscheidenden Richter die Akten lesen. Ich halte dies für ein extrem schwaches Argument. Der ganze Rest ist Schweigen oder sinnloses Beleidigtsein. Eine neutrale Untersuchung durch ein wissenschaftliches Forschungsvorhaben von zwei Universitäten ist mit der Begründung abgelehnt worden, das Persönlichkeitsrecht von Richtern könne verletzt sein, die vor Jahren in die (amtlichen) Revisionsakten irgendwelche Rand-Bemerkungen oder Kringel gemalt haben. All das kann man machen. Es hat allerdings mehr mit Macht als mit Recht zu tun. Meiner Vorstellung entspricht es nicht. Wenn irgendjemand meint, er müsse mich "Rebell" nennen, weil ich vorschlage, ein Steak mit Messer und Gabel zu essen, statt es zwecks Zeitersparnis zu pürieren, dann soll es meinetwegen so sein. Ich bin ein konservativer Mensch. Ich lasse mir nicht alle Zähne ziehen, weil dann die Nahrungsaufnahme schneller geht. Und wenn die "herrschende Meinung" anderer Ansicht ist, soll sie halt das Brot auf dem Zahnfleisch kauen.

"Ich kenne keinen anderen Senat, in dem so intensiv, offen und gleichberechtigt diskutiert wird"

LTO: Noch einmal zurück zur Beratungspraxis. Nehmen wir an, ich bin Richter in Ihrem Senat, und vertrete bei einer zur Entscheidung stehenden Rechtsfrage eine andere Meinung als Sie. Die übrigen Kollegen schwanken noch. Wie schwer ist in dieser Situation mein Leben? Fischer: Das ist vermutlich eine Scherzfrage. Ihr Leben ist so schwer, wie Sie und das Schicksal es machen. Ich werde darauf gewiss keinen Einfluss nehmen. Die Frage gibt mir aber Gelegenheit zu einer kleinen Richtigstellung: Ein ehemaliger Dienstvorgesetzter, der mehrfach rechtswidrige – und daher von den zuständigen Verwaltungsgerichten aufgehobene - dienstliche Beurteilungen über mich erstellt hat, hat den öffentlich lancierten Versuch unternommen, mich als autoritäre Persönlichkeit zu desavouieren, die abweichende Meinungen zu unterdrücken und eigene Meinungen rücksichtslos durchzusetzen versuche. Nichts davon ist richtig. Noch niemals habe ich einen BGH-Senat erlebt, in dem so intensiv, breit, offen und gleichberechtigt diskutiert wurde. Bei uns gibt es keine "Außenseiter" und keine "Rebellen". Wir sind sieben gleichberechtigte Richter, mit jeweils eigenen Vorstellungen und Meinungen. Es gibt weder einen vorgetäuschten Konsens noch einen "Vorgesetzten", denn die Position des "Vorsitzenden Richters" hat nach meiner Überzeugung mit der eines Vorgesetzten nichts zu tun. Soweit im Rahmen von Senatsbesprechungen Mitglieder des Senats Kritik an meinem "Führungsstil" formuliert haben, richtete sich diese gegen eine angeblich zu "antiautoritäre" Führung, gegen zu wenig "Bestimmung" und zu viel Zuweisung von Eigenverantwortlichkeit. Ein schönes Beispiel zur Illustration: Nach meiner Ernennung zum Vorsitzenden des 2. Strafsenats habe ich in einer Rund-Verfügung die Kollegen des Senats gebeten, Entscheidungsentwürfe jeweils binnen spätestens drei Wochen nach der Beratung/Entscheidung vorzulegen. Ein Kollege beschwerte sich nach einem Jahr darüber, dass ich die Einhaltung dieser Frist durch ihn "nicht oft genug kontrolliert" hätte. Dazu kann ich nur sagen: Das stimmt. Wenn ein Bundesrichter ernstlich eines Oberlehrers bedürfte, der seine Hausaufgaben kontrolliert, wäre er eine eklatante Fehlbesetzung. 

"Natürlich betreibt der BGH auch Rechtspolitik"

LTO: Der 2. Strafsenat vertritt vielfach liberale Positionen und greift Kritik auf, die von der herrschenden Meinung in der Literatur seit Langem vertreten, von der Rechtsprechung aber vormals nicht beherzigt wurde. Sehen Sie hier eine mangelnde Bereitschaft einiger Kollegen, von einer einmal beschlossenen Linie abzuweichen? Und nach welchen Kriterien entscheiden Sie selbst, bis wohin Sie eine möglicherweise unbefriedigende Rechtsprechungslinie aufrechterhalten, bzw. ab wann sie damit brechen? Fischer: Das Recht, auch das Strafrecht, ist keine statische, ein für allemal feststehende Materie, denn es besteht aus Sprache und normativen Vereinbarungen; beides verändert sich laufend. Anders gesagt: Bedeutungen ändern sich, weil sich die Lebensverhältnisse ändern. Es ist eine der Aufgaben der Obersten Gerichtshöfe, dem durch eine "Fortentwicklung des Rechts", d.h. der Auslegung der Gesetze, Rechnung zu tragen. Das kann im Einzelfall einmal durchaus "abrupt" erfolgen, wenn eine jahrzehntelange "gefestigte Rechtsprechung" aufgegeben wird oder wenn Präzisierungen für bestimmte Fallgruppen erfolgen, die in dieser Form bisher noch nicht abgetrennt wurden. In solchen Fällen muss selbstverständlich abgewogen werden, wie groß der Nutzen und die Notwendigkeit einer Änderung gegenüber dem Vorteil der "Stetigkeit" sind. Es gibt dafür keine allgemeinen Formeln; gewiss wird das von verschiedenen Richtern auch unterschiedlich beurteilt werden.

"Streit ist nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern ihre Grundlage"

Das bloße Beharren auf eingefahrenen Meinungen hat kein besonderes Gewicht, wenn sich die Tatsachen oder deren Beurteilung geändert haben. Gelegentlich sind es auch Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse in einem Senat oder im Gericht, die zu Änderungen der Rechtsprechung führen. Die Ansicht, die obersten Gerichtshöfe machten - insoweit - nicht auch Rechtspolitik oder gar, dies sei ihnen "verboten", ist falsch. Sie geht von einer sprachlich, inhaltlich, argumentativ "abschließenden" Regelung durch den Gesetzgeber aus, die vom jeweiligen Gericht nur noch "erkannt" werden müsse. Das ist nach meiner Ansicht Unsinn. Norm und Normanwendung stehen in einem komplizierten Wechselverhältnis. Man nennt das Fortentwicklung des Rechts. Es ist eines der wesentlichen Aufgaben des Obersten Bundesgerichts. Der BGH betreibt dieses Geschäft seit nunmehr 70 Jahren – mal einstimmig, mal streitig, aber immer nach dem Gesetz. Der "Streit" ist, anders als die Medien meinen, nicht das Gegenteil von funktionierender Demokratie, sondern deren Grundlage. Es mag sein, dass das einigen anstrengend erscheint. Es gibt viele gute Gründe, eine "einmal beschlossene Linie" beizubehalten. Es gibt freilich auch weniger gute. Der 2. Strafsenat orientiert sich in seiner Rechtsprechung nicht daran, was "erwünscht", "üblich" oder "eine Linie" ist.

"Wenn jemand fachliche Differenzen nicht von persönlichen trennen kann, ist das weder meine Schuld noch Sorge"

LTO: Essen Sie mit den Kollegen vom 5. Senat eigentlich am gleichen Tisch zu Mittag? Wenn man die Auseinandersetzungen, insbesondere zum Thema Vier-Augen-Prinzip, von  außen betrachtet, gewinnt man den Eindruck, am BGH müsse die Luft zum Schneiden dick sein. Fischer: Der 5. Strafsenat hat seinen Tisch in Leipzig aufgeschlagen. Der 2. Strafsenat isst in Karlsruhe, mal allein, mal mit anderen. Es ist absurd, inhaltliche Differenzen mit persönlichem Streit gleichzusetzen. Das ist ein Niveau, auf dem ich nicht wirklich diskutieren möchte und das dem Ernst der Sachfragen auch nicht angemessen ist. Wer meint, dass er "beleidigt" sein muss, weil irgendjemand das sogenannte "Zehn-Augen-Prinzip" (ZAP) befürwortet und damit eine jahrzehntelange "Tradition" in Frage stellt, der soll eben beleidigt sein. Die Frage ist doch: Worüber und Warum? Die Mitglieder des 5. Strafsenats haben in einer etwas peinlichen Veröffentlichung behauptet, sie seien beschuldigt worden, bewusst Rechtsfehler zu begehen, Sachverhalte zu verfälschen usw. Die Kollegen irrten hier schon im Ansatz. Sie hatten leider überhaupt nicht verstanden, worum es ging, oder ließen sich dies jedenfalls nicht anmerken. Es wäre besser gewesen, sie hätten vorher einmal in Karlsruhe angerufen.  Beleidigtsein einzelner Personen hat aber keine Bedeutung in der Sache. Das wissen die Kollegen des 5. Strafsenats ebenso wie die des 2. Richter an obersten Bundesgerichten haben eben etwas schwache Nerven. Ihnen zittert die Teetasse, wenn einmal ein neuer Gedanke daherkommt, und dann meint eine Minderheit unter ihnen, nun müsse man mit allen Mitteln die Teetassen-Revolution bekämpfen. Das ist rührend, aber falsch. Die Kollegen sollten lieber einmal all ihren Mut zusammennehmen und über die Sache nachdenken, als sei alles offen und als könne ihnen nichts geschehen.   

"Ich will keine Entscheidungen an mich ziehen", "Manche Kritik wirkt wie krampfhafter Versuch, mein Verhalten zu skandalisieren

LTO: Die Differenzen, die Sie mit einigen Richterkollegen haben, insbesondere zum ZAP, betreffen jedenfalls nicht nur Detailfragen, sondern rühren an das Grundverständnis dessen, was gerechte richterliche Entscheidungsfindung ausmacht. Ärgert es Sie mitunter, die von Ihnen beklagten Missstände am BGH miterleben zu müssen – bzw. wünschten Sie bei einigen Verfahren mit Potential zur Grundsatzentscheidung, der Geschäftsverteilungsplan wäre ein anderer? Fischer: Nein. LTO: Teilweise droht die Debatte ins Kleinliche und Persönliche zu kippen. Ihnen wurde vorgeworfen, in dem Urteil, mit welchem Sie unlängst eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation zum Verfahrenshindernis erklärten, nicht ausdrücklich betont zu haben, dass Sie an einer früheren, anderslautenden Entscheidung selbst beteiligt waren. Was halten Sie davon? Fischer: Nichts. Von dem von Ihnen erwähnten "Vorwurf" erfahre ich soeben zum ersten Mal. Er scheint mir gänzlich absurd. Ich habe in der genannten Sache in der Hauptverhandlung den Vorsitz geführt und das Urteil verkündet. Das ist die Aufgabe des Vorsitzenden eines Spruchkörpers. Für irgendwelche persönlichen Erklärungen bestand oder besteht weder Anlass noch Raum. In der Entscheidung ist die bisher ständige Rechtsprechung des BGH – aller Strafsenate – zu den Rechtsfolgen rechtsstaatswidriger Tatprovokation aufgegeben worden, nachdem der EGMR entschieden hatte, diese ständige Rechtsprechung widerspreche der Menschenrechtskonvention. Welche persönliche Erklärung sollte denn dazu ein Richter abgeben? Die Rechtslage hat sich geändert; unter Berücksichtigung des Europarechts hat der Senat entschieden wie geschehen. Weder wenn ich "dafür" noch wenn ich "dagegen" war, hätte es irgendetwas zu erklären gegeben. Ich wiederhole: Ein vollkommen absurder "Vorwurf"! Er zeigt, wenn überhaupt, allenfalls ein krampfhaftes Bemühen, in jede beliebige Äußerung oder Diensthandlung des Vorsitzenden des 2. Strafsenats irgendein "Geheimnis" oder am besten eine Art von "Skandal" hineinzuinterpretieren.

"Es gab keinen Anlass, den Großen Senat bei der Entscheidung zur Tatprovokation anzurufen"

LTO: Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der 2. Senat zwar gefestigte Rechtsprechung kippt, um den Großen Senat aber einen großen Bogen macht. Im Fall der Tatprovokation haben Sie ihn jedenfalls nicht angerufen. Fischer: Tatsache ist, dass der 2. Strafsenat im letzten Jahr drei Verfahren vor dem Großen Senat nach § 132 GVG initiiert hat. Das ist mehr als jeder andere Senat in vielen Jahren. Der "Kritikpunkt" scheint mir daher nicht besonders gut informiert. Was die Entscheidung zur Tatprovokation betrifft: Eine Divergenzlage war offenkundig nicht gegeben, nachdem der EGMR die Rechtsprechung des BGH für obsolet erklärt hatte. Warum sollte dann ein Senat bei den anderen anfragen, ob er von einer Rechtsprechung abweichen dürfe, die rechtskräftig und mit Bindungswirkung für menschenrechtsrechtswidrig erklärt wurde?

"System der Richterbeförderung ist unbefriedigend", "2. Strafsenat entscheidet ca. 15% nach Zehn-Augen-Prinzip"

LTO: Sie sparen nicht mit Kritik an Kollegen. Dennoch ist sicher jeder, der es zum BGH-Richter gebracht hat, über den Verdacht erhaben, ein schlechter Jurist zu sein. Aber vielleicht ein schlechter Richter? Will fragen: Sähen Sie im System der Einstellung und Beförderung von Richtern gerne andere / weitere Qualitäten betont, als dies bislang der Fall ist? Fischer: Die kurze Antwort auf Ihre Frage lautet ja. Die lange habe ich an anderer Stelle unlängst sehr ausführlich gegeben. Im Übrigen ist die Behauptung, dass ich "nicht mit Kritik an Kollegen spare", grob falsch. Ich habe in manchen Fragen eine andere Meinung als andere. In denselben oder anderen Fragen haben andere eine andere Meinung als ich. Wieso sollte das unter der Überschrift "Kritik an Kollegen" laufen? Heißt es "Medienschelte" und ist es ein "Skandal", wenn die Süddeutsche Zeitung eine andere Meinung vertritt als die Frankfurter Allgemeine?   LTO: In wie viel Prozent aller Beschlusssachen entscheidet eigentlich der 2. Senat nach dem Zehn-Augen-Prinzip? Fischer: Etwa acht Monate lang in ca. 15 Prozent der Fälle. Aus organisatorischen Gründen (Wechsel von Richtern, Krankheitsfälle) haben wir die Anwendung des ZAP Anfang 2015 leider aussetzen müssen. Wir werden uns aber in allernächster Zeit erneut mit dem Thema befassen und entscheiden, wie weiter verfahren werden soll.

"Am schnellsten würde es gehen, wenn überhaupt keiner mehr die Akten liest"

LTO: 15 Prozent - mehr war nicht drin? Fischer: Doch. Der Anteil lässt sich auf mindestens 50 Prozent steigern, ohne dass dies zu Erledigungs-Verzögerungen führt. Diese Verzögerungen sind im Übrigen ja nur ein Mosaikstein in der Argumentation. Am schnellsten würde es gehen, wenn überhaupt keiner mehr die Akten liest. Am zweitschnellsten, wenn einer liest, am drittschnellsten, wenn es zwei tun, usw. In der StPO steht allerdings nichts von Geschwindigkeitsrekorden. Dort steht, dass ein Senat aus fünf Richtern über die paar wenigen Revisionen entscheidet, die bis zum Obersten Gerichtshof gelangen. Mit anderen Worten: Nicht die angeblichen "Rebellen" des ZAP haben irgendeine Darlegungs-oder Beweislast, sondern die herrschende Meinung, die behauptet, es sei für das Ergebnis gerade einmal egal, ob zwei oder fünf Richter die Revisionsakte jemals gesehen haben. Die Begründungen dafür sind derart hanebüchen und widersprechen in solch eklatanter Weise jeder wissenschaftlich gesicherten Erkenntnis, dass man sich nur wundern kann, wie viele hochintelligente Menschen sie nachplappern.

"Das derzeitige System bietet die Möglichkeit gesetzwidriger Manipulationen"

LTO: Eine Steigerung auf 50 Prozent ohne Zeiteinbußen? Wie stellen Sie sich das vor? Fischer: Die erfolgreiche Anwendung des ZAP setzt selbstverständlich ein höheres Maß an Disziplin voraus, als es bisher in den Strafsenaten für erforderlich gehalten wird: Die Beratungstermine müssen vorab bestimmt werden, und es muss sichergestellt sein, dass die Mitglieder der betreffenden Sitzgruppe am Beratungstermin auch anwesend sind. Das ist aber eine ganz normale Disziplin, wie sie bei den Zivilsenaten selbstverständlich ist und auch in den Urteilsverfahren der Strafsenate eingehalten wird. Sie schränkt allerdings die Freiheit der Strafsenats-Richter erheblich ein, welche das bisherige Verfahren ihnen bietet, nämlich die Revisionssachen zu dem Zeitpunkt "in den Senat zu bringen", der ihnen selbst - aus welchen Gründen auch immer - als passend erscheint. Dieses merkwürdige Privileg ist sachlich nicht verständlich. Seine Einschränkung erscheint mir aus rechtsstaatlichen Gründen dringend geboten, denn die genannte Freiheit bietet - neben Bequemlichkeit für den einzelnen Richter - offenkundig die Möglichkeit gesetzwidriger Manipulation des Entscheidungs-Kollegiums, beispielsweise, indem ein Zeitpunkt gewählt wird, zu dem sich ein Kollege mit mutmaßlich anderer Ansicht im Urlaub befindet. Wenn ein Senat sich einig ist, dass nach dem ZAP verfahren werden soll, lassen sich Routinen entwickeln, die zur Zeitersparnis führen. Wenn die Revisionsakten von allen Sitzgruppenmitgliedern gelesen werden, wird die Beratung der Sache dramatisch abgekürzt, weil der end- und häufig sinnlose Aktenvortrag des Berichterstatters entfällt. Dadurch lassen sich wöchentlich mindestens zehn Stunden sparen. In dieser Zeit kann ein geübter Revisionsrichter eine Menge Akten so lesen, dass er umfassend über den Verfahrensstoff informiert ist. Alles in allem ist es ziemlich einfach. Man muss es nur wollen.

"Es gibt keine Vetternwirtschaft unter Richtern"

LTO: Man kann den Eindruck gewinnen, dass ein missbräuchlicher oder auch nur nachlässiger Umgang mit richterlicher Entscheidungsmacht für Sie ein besonders rotes Tuch ist – erst kürzlich hat Ihr Senat ein Urteil des LG Frankfurt aufgehoben, weil eine Richterin während der Hauptverhandlung SMS geschrieben hatte. Vergleichbare Fälle (Sekundenschlaf, geschlossene Augen und schweres Atmen) waren zuvor von anderen Gerichten, etwa dem BFH, durch gewunken worden. Denken Sie, dass sich im Umgang mit den Fehlern von Richterkollegen, die potentiell auch die eigenen sind, eine gewisse laissez-faire-Attitüde eingeschlichen hat? Fischer: Nein. Die von Ihnen erwähnten Fälle sind teilweise Jahrzehnte alt und würden nach meiner Ansicht heute so nicht mehr entschieden. Außerdem bringen Sie "Abwesenheit" und "Befangenheit" durcheinander. Der Handy-Fall unterschied sich substanziell von anderen Fällen. Warten Sie die Urteilsgründe ab; diese werden dazu das Erforderliche sagen.  Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und Herausgeber des strafrechtlichen Standardwerkes "Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen". Auf Zeit Online verfasst er eine wöchentlich erscheinende Kolumne zu grundlegenden Fragen und Problemen des Rechts. Das Interview führte Constantin Baron van Lijnden.

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