Anwaltsmarkt und Globalisierung

Von Stuttgart aus die ganze Welt vertreten

Daniel NagelLesedauer: 6 Minuten
Die ersten englischsprachigen Gerichtsverhandlungen in Deutschland gibt es bereits, erfordern die Globalisierung und der technologische Fortschritt auch sonst ein radikales Umdenken? Jorge Colon, Gründer der Online Bar Association und Inhaber eines virtual law offices, spricht im LTO-Interview über das Rechtswesen im Wandel und Chancen vor allem für kleine Kanzleien.

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"Wenn man nur eine Minute verharrt und betrachtet, wohin der ungeheuere technologische Fortschritt derzeit führt, wird einem bewusst werden, dass der technologische Fortschritt auch nicht vor Rechtsdienstleistungen halt machen, sondern diese geradezu revolutionieren wird."

Der Verfasser des Zitats Jorge Colon hat gemeinsam mit seiner Frau die Online Bar Association gegründet. Zuvor war er Lead Media Counsel des Telemundo Network und Senior Media Counsel von NBC universal. Seit 2007 betreut er als Inhaber einer Boutiquekanzlei, Colon Partners, P.A. mit Sitz in Miami, Mandanten in Amerika, Afrika und Europa.

Im Gespräch mit LTO äußert er sich zur englischen als der zukünftig einzigen Sprache auch des Rechts, zu unaufhaltsam fallenden Grenzen und zum Ende der anwaltlichen Dienstleistung, wie wir sie kennen. Vor allem aber zu den sich hieraus ergebenden Möglichkeiten: "Es gibt keinen Grund, Angst zu haben."

LTO: Herr Colon, inwiefern wird der technologische Wandel das Rechtswesen verändern? 

Colon: Gesetze haben die Macht, Güterströme durch Zölle und Währungskontrollen einzudämmen, aber niemand vermag es, die Ideen- und Datenflüsse im Internet zu bändigen. Sich auf die kleinen Minderheiten zu konzentrieren, die versuchen, das Internet zu kontrollieren, ist ebenso müßig wie der Versuch, Wasser in den Händen zu halten. Wenn der technische Fortschritt - vielleicht außer durch einen Weltkrieg - nicht gestoppt werden kann, so gilt das auch für die Globalisierung des Rechtswesens.

LTO: Was bedeutet das konkret?

Colon: Die Globalisierung machte die englische Sprache zur führenden Businesssprache. Warum dies so ist, ist irrelevant; interessant ist lediglich, welche Schlüsse man daraus ziehen muss. Gesetze folgen dem Weg von Geld und Geschäften - man kann davon ausgehen, dass künftig beinahe alle wirtschaftsrechtlichen Regelungen auf der ganzen Welt auf Englisch gestaltet sein werden. Aus diesem Grund sind die führenden Kanzleien in der Welt bereits im festen Griff der englischen Sprache.

Eine weitere Folge der Globalisierung ist die Annäherung der wirtschaftsrechtlichen Gesetzgebung. Die Vereinheitlichung der Märkte schreitet in immer schnelleren Schritten voran. Das offensichtliche Ergebnis hiervon ist die Schaffung eines weltweiten Wettbewerbs - auch im Bereich der Rechtsdienstleistungen. Was wird die Folge der Globalisierung sein? Der Wettbewerb explodiert und die Geschwindigkeit der weiteren Entwicklung wird derart zunehmen, dass jeder, der nicht mithalten kann, davon verängstigt wird.

"Grenzen werden Geld und Wirtschaft zum Opfer fallen"

LTO: Wird diese Entwicklung nicht durch nationale, protektionistische Strömungen verhindert?   

Colon: Solange in einem Rechtssystem die nationale Sprache bestimmend ist und dieses mit anderen nicht vereinbar ist, werden sowohl der Handel als auch der Geldfluss verlangsamt. Wie oft haben wir schon gehört, dass sich Firmenchefs darüber beschweren, dass Anwälte den Abschluss von Geschäften verzögern. Dies ist teilweise wahr, aber auch dem Umstand geschuldet, dass Gesetze genau zu diesem Zweck geschaffen wurden. Die Globalisierung verändert das traditionelle Bild jedoch nachhaltig: Grenzen stellen keine tatsächlichen Beschränkungen mehr dar, sie werden durchlässig. Da Grenzen rechtliche Fiktionen sind, werden sie den Bedürfnissen von Geld und Wirtschaft zum Opfer fallen.

LTO: Das klingt nach einer recht düsteren Prognose....

Colon: Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Man muss sich lediglich damit abfinden, dass die meisten rechtlichen Standarddienstleistungen, die auf einer einfachen Struktur beruhen, künftig mittels der zur Verfügung stehenden Technologie nach Indien oder in andere Niedriglohnländer ausgelagert werden. Die Weiterentwicklung der Gesetzgebung ist ebenfalls auf der Überholspur. Hochqualifizierte rechtliche Dienstleistungen werden künftig an der vordersten Front der Technik erbracht werden.

Man darf jedoch auch hier nicht überrascht sein, wenn diese künftig von hochspezialisierten afrikanischen oder indischen Kanzleien durchgeführt werden. Die geografische Lage tritt hinter den Zugang zu Talenten und Wissen zurück. Letzteres führt zu einer notwendigen Umorganisation von rechtlichen Dienstleistungen im Zeitalter der Globalisierung und Virtualisierung.

"Das Ende der Tyrannei der Geografie"

LTO: Das heißt, die Zukunft liegt in der Abkehr von der traditionellen Kanzlei- und Beratungsstruktur?

Colon: Im Industriezeitalter hat das traditionelle Beratungsmodell sehr gut funktioniert, zu gut vielleicht. Daher funktioniert es für Großkanzleien auch weiterhin. Nicht alle Dinosaurier sind ausgestorben. Die Tyrannei der Geografie findet jedoch bei Dienstleistungen in der Informationsgesellschaft ein Ende. Anwälten ist es zunehmend möglich, ihre Dienste ausschließlich online zu erbringen. Die gegenwärtig dagegen vorgebrachten Einwände können getrost vernachlässigt werden. Der Fortschritt wird sich nicht nach unseren persönlichen Vorlieben richten. Ohne die Schaffung von erheblichen gesetzlichen Hindernissen wird die derzeitige Entwicklung nicht gestoppt werden können. Manche werden versuchen, diese Hindernisse zu schaffen und sogleich in Siegessjubel ausbrechen - dieser vermeintliche Sieg wird jedoch nicht lange anhalten.

LTO: Im Ergebnis ist also ein Umdenken angesagt?

Colon: Ja, und eine Neustrukturierung. Wenn man Globalisierung und Virtualisierung vermischt, gleicht der Rechtsmarkt dem Börsenparkett der Wall Street oder einer vietnamesischen Kreuzung ohne Ampelanlagen. Wenn man sich mittendrin befindet, sieht es chaotisch aus. Macht man jedoch einen Schritt zurück, kann man die Bewegung, den Rhythmus ausmachen - welcher beinahe regelmäßig ist. Wenn man sich lange traditionellen Begebenheiten gewidmet hat, wird diese These als eine Form der Häresie erscheinen. Dies ist es aber nicht, schließlich steht die ganze Welt Kopf.

Daher stellt sich auch eher die Frage, was wir tun können. Zusammen mit meiner Frau gründete ich die Online Bar Association, um auf der Welle des Wandels zu schwimmen, anstatt von ihr überspült zu werden. Wir gehen davon aus, dass bei der weiteren Entwicklung von Virtualisierung und Globalisierung viele von uns beobachten werden, wie traditionelle Zuständigkeitsbereiche aufgehoben werden, wodurch es einem gut organisierten Einzelanwalt oder einer kleinen Kanzlei möglich ist, etwa von Stuttgart aus Klienten auf der ganzen Welt zu vertreten.  Selbst die Schwierigkeiten von Widersprüchen in Rechtssystemen oder Sprachbarrieren können durch die projektbezogene Einbeziehung von Spezialisten vor Ort übernommen werden.

Die Online Bar Association: Soziales Netzwerk für Vertrauen

LTO: Und die Online Bar Association soll als Bindeglied fungieren?

Colon: Die erste Herausforderung bei derartigen Netzwerken stellt die Tatsache dar, dass wir als Menschen keine ähnlich schnelle Wandlung vollziehen können wie die Technologie. Wir sind darauf angewiesen, zunächst Vertrauen zu schaffen, bevor wir eine Geschäftsbeziehung eingehen. Ohne die Gewohnheit, uns in Kanzleiräumlichkeiten oder sonst persönlich zu treffen, verlieren wir diese Sicherheit. Aus diesem Grund wurde die Online Bar Association zunächst als soziales Netzwerk geschaffen, um zwischen den Mitgliedern ein gewisses Maß an Vertrauen zu erzeugen.

Die nächste Herausforderung ist, sich selbst richtig zu organisieren, um wettbewerbsfähig zu sein. Große Kanzleien sind sich der Veränderungen viel eher bewusst. Aber kleine Kanzleien und Einzelanwälte könnten viel flexibler als die Marktführer reagieren. Großkanzleien sind in dieser Hinsicht wie alte Segelschiffe; sie sind beladen mit einem ungeheuren Ausmaß an Talent und Wissen. Sobald sie in Stellung gebracht sind, sind sie nicht zu überbieten.

Wenn sich jedoch 100 kleine Organisationseinheiten kurzfristig mit der Synchronität eines Vogelschwarms zusammenschließen können, können sie nicht nur am Wettbewerb teilhaben, sondern es wird ihnen auch möglich sein, die langsameren Einheiten in den Ruhestand zu schicken.

 

Online Bar Association

Die Online Bar Association ist eine weltweite Gemeinschaft von Rechtsanwälten, die als globales Netzwerk zusammenarbeiten, um dem modernen Wettbewerb gewachsen zu sein. Getreu dem Prinzip "friends first, business second" soll Mitgliedern ein jederzeitiger Rückgriff auf zuverlässige Kontakte und Know-how auf der ganzen Welt ermöglicht werden. Die Online Bar Association wurde im März 2010 gegründet und umfasst bereits 1400 Mitglieder, die vorwiegend aus Lateinamerika, Asien und dem OECD -Raum stammen. 

Das Interview führte Daniel Nagel, Rechtsanwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei am Standort Stuttgart.

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Thema:

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